Die gute Nachricht: Es geht allen genau gleich.
Die schlechte: Man blickt trotzdem nicht immer durch.
Die Rede ist von Bedürfnissen innerhalb einer Familie. Obwohl es im Alltag vielleicht nicht so scheint, sind die Bedürfnisse von Kindern wie von Eltern grundsätzlich ziemlich ähnlich. Schon nur zu realisieren, dass dem so ist, kann bereits helfen, schwierige Situationen anders anzugehen. Wer eine schwierige Situation zuhause mal mit der Bedürfnis-Brille anschaut, hat die Chance, mit wenigen Mitteln die Lage zu entspannen. Wie das geht?
Das verraten wir euch in diesem Artikel.
Für diesen Artikel arbeiten wir mit Kinderschutz Schweiz zusammen. Uns ist wichtig, nicht nur humorvoll über Grenzerfahrungen im Begleiten und Anleiten von Kindern zu schreiben, sondern auch Ideen und Inspiration zu bieten, wie man schwierige Situationen entschärfen könnte.
Die wichtigsten Bedürfnisse eines Menschen sind folgende (nach Grawe):
Das Bedürfnis, tiefe Beziehungen zu Mitmenschen zu haben, selbstbestimmt zu leben, handlungsfähig sein, Wertschätzung zu erfahren, Schönes zu erfahren und Schmerzvolles abzuwenden.
Eltern können davon ausgehen, dass diese Grundbedürfnisse auch das Handeln und Verhalten ihrer Kinder bestimmen.
Doof nur: Diese Bedürfnisse sind nicht immer offensichtlich erkennbar. Nicht immer klar verständlich.
Weshalb wir uns im Alltag vorallem am Handeln und Verhalten unserer Mitmenschen orientieren und Dinge interpretieren. Wenn wir dann finden, ein Verhalten oder eine Absicht sei völlig daneben, führt genau das zu Konflikten und Streit.
Ein Beispiel.
Die Kinder sitzen am Tisch, lösen Hausaufgaben und streiten lauthals. Ich selber versuche gerade, eine Email zu tippen oder möchte ein wichtiges Telefonat machen. Ich werde wütend. Wenn ich mich als Mutter oder Vater jetzt nur am Verhalten der Kinder (lauthals streiten) orientiere und aus meiner Wut heraus auch laut werde, sind wir in Kürze allesamt am Schreien und Streiten.
Was kann ich stattdessen tun?
Wie im Flieger: Zuerst die eigene Sauerstoffmaske überziehen.
Die Instruktionen bei einem Flugunfall sind klar: Fallen die Sauerstoffmasken aus der Decke, muss man zuerst sich selbst so ein Ding überziehen und erst dann – wenn die eigene Versorgung gewährleistet ist – sich um die anderen rundherum kümmern.
Auf die Stresssituation zuhause übertragen, bedeutet dies folgendes: Gönne dir eine bewusste Atempause und lasse die Kinder einen kurzen Moment weiter streiten (sofern es kein Notfall ist natürlich).
Zuerst müssen sich deine Emotionen etwas abkühlen. Zum Beispiel mit einem bewussten Zählen auf 10. Wenn du richtig zornig bist, dann auch mal bis 100. Weitere Ideen zum Abkühlen findest du hier.
Dann lohnt es sich, zu überlegen, was mir selber gerade wichtig ist. Meistens werden wir innerlich (noch) ruhiger, wenn wir in Verbindung sind mit dem, was uns im Moment wichtig wäre.
Das kann in unserem Beispiel Verschiedenes sein. Ich hätte gerne:
- Ruhe, damit ich die E-Mail fertigschreiben kann.
- Verständnis, dass die Situation für mich im HomeOffice momentan nicht so einfach ist.
- Effizienz, damit ich möglichst bald Zeit habe, um mit den Kindern zu spielen.
…dann den anderen helfen.
Jetzt, mit klarerem Kopf, kann ich mir überlegen, was die Bedürfnisse hinter dem Verhalten der Kinder sein könnte. Vielleicht….
- …brauchen sie ebenfalls Ruhe, damit sie sich auf die Hausaufgaben konzentrieren können.
- …brauchen sie eine Pause und Bewegung.
- …möchten sie selber bestimmen, was sie tun wollen.
- …brauchen sie Unterstützung (im Streitschlichten, bei den Hausaufgaben, im Umgang mit einer stressigen Lebenssituation)
Ruhe, Erholung, Selbstbestimmung oder Unterstützung könnten im Moment Bedürfnisse der Kinder sein.
Wenn Eltern wissen, dass ihre eigene Wut einen guten Grund hat. Und wenn ihnen klar wird, dass das Herumschreien der Kinder einen ebenso guten Grund hat. Dann schafft das Verständnis. Und Verständnis hilft, dass wir (Eltern und Kinder) in Beziehung zueinander bleiben.
Wie geht es jetzt weiter?
Für den nächsten Schritt ist es wichtig, dass sich Eltern bewusst sind:
Kinder können über ihre Bedürfnisse noch nicht in derselben Art nachdenken wie das erwachsene Person können.
Kinder können sich sprachlich nicht gleich ausdrücken wie Erwachsene.
Kinder haben weniger Erfahrung darin, Bedürfnisse zurückzustellen und kennen weniger Verhaltensweisen, durch die sich Bedürfnisse erfüllen lassen.
Basierend auf diesen Unterschieden in der Entwicklung, Erfahrung und Verantwortung – und nicht etwa, weil die Bedürfnisse der Kinder wichtiger wären als die der Eltern – ergibt sich folgendes:
Ich als erwachsene Person versuche als nächstes, jedes Kind einzeln durch Nachfragen zu verstehen. Erst dann sage ich selber noch, was mir wichtig ist.
Dabei hilft es, so zu sprechen, dass mich das Kind versteht und Wörter zu benutzen, die es kennt.
An diesem Punkt stellt sich die Frage: Bei welchem Kind soll ich zuerst nachfragen?
Eine Faustregel dazu – frei nach dem Motto «Störungen haben Vorrang» – kann sein: Bei demjenigen Kind zuerst nachfragen, das im Moment aufgewühlter ist. Und gleichzeitig den anderen ganz klar sagen, dass sie nachher auch angehört werden und ihre Sichtweise ebenso wichtig ist.
Da Kinder ihren Bedürfnissen nahe sind und sich auch direkter ausdrücken, reicht hier oft als Einstieg die Frage «Was brauchst du?» – in ruhigem Ton.
Um bei unserem Beispiel von oben zu bleiben:
Elternteil, Frage an Kind 1: «Was brauchst du, wenn du so laut wirst?»
Kind 1: «Ich will nicht diese blöden Hausaufgaben machen.»
Elternteil (versucht weiter, ruhig zu bleiben und zu verstehen): «Möchtest du selber auswählen, welche Aufgaben du löst, welche du interessant findest?»
Kind 1: «Nichts ist interessant. Ich will diese blöden Aufgaben einfach nicht machen!»
Elternteil (versucht weiter, ruhig zu bleiben und zu verstehen): «Ach so. Heisst das, du möchtest selber entscheiden, ob du diese Hausaufgaben machen möchtest oder nicht?»
Kind 1: «Ja!»
Elternteil (bleibt weiter ruhig): «Ok. Ich verstehe, dass dir selber entscheiden wichtig ist.»
Wenn das Kind nun deutlicher ruhiger ist, ist das ein Zeichen dafür, dass es sich verstanden fühlt. Gehört und verstanden zu werden, hat eine erlösende, beruhigende Wirkung und ist für uns Menschen oft zentraler als die sofortige Erfüllung eines Bedürfnisses.
Danach kann ich mich als Elternteil dem anderen Kind zuwenden und ebenfalls zu verstehen versuchen, was bei ihm Auslöser der Unruhe ist.
Verstehen heisst nicht, einverstanden sein.
Wenn die Eltern das Bedürfnis des Kindes (in unserem Beispiel: Selbstbestimmung/Autonomie) verstanden haben, heisst das nicht, dass das Bedürfnis auch sofort erfüllt werden kann und soll.
Es heisst auch nicht, dass die Eltern mit dem Verhalten (in unserem Beispiel: Rumschreien) einverstanden sind.
Beim Verstehen wollen geht es darum, dass ich als Mutter oder Vater in Beziehung bleibe mit meinem Kind – frei nach dem Motto: Beziehung kommt vor Erziehung.
Nachdem alle ruhiger sind, kann ich als Mutter oder Vater nun einbringen, was mir wichtig ist. Kinder sollen erfahren und lernen, dass auch die Erwachsenen Bedürfnisse und Grenzen haben und für diese einstehen.
Am besten vermittelt man seine Wünsche mit einer Ich-Botschaft. In unserem Beispiel könnte das so aussehen: «Wenn es so lärmig ist, kann ich mich nicht konzentrieren. Ich brauche Ruhe, damit ich meine E-Mails schreiben und telefonieren kann.»
Kinder finden oft kreative Lösungen
Nachdem alle Bedürfnisse auf dem Tisch sind, können Wege gesucht werden, wie man die Bedürfnisse aller (zumindest teilweise) erfüllen könnte. Hier sollen Kinder soweit möglich einbezogen werden. Häufig sind nämlich sie es, die ungewöhnliche und kreative Ideen einbringen.
In unserem Beispiel könnte der Elternteil nun sagen: «Jetzt haben wir alle gesagt, was uns wichtig ist. Kind 1 möchte selber entscheiden können. Leider kann es über die Hausaufgaben nicht selber entscheiden, denn die müssen gemacht werden. Worüber könnte es denn in dieser Situation trotzdem selber entscheiden? Wer hat eine Idee?»
Indem die Kinder einbezogen werden, erfüllen sich automatisch einige der wichtigsten Bedürfnisse von Kindern:
Die Grundbedürfnisse nach Anerkennung und Vertrauen.
Ein Bedürfnis von Kindern, das man mit «Selber» (Selbstwirksamkeit) umschreiben könnte: Selber entscheiden, selber bestimmen, selber machen, selber probieren, selber herausfinden
Und das Bedürfnis von Kindern, etwas beitragen zu wollen. Es geht im Trubel des Alltags oft vergessen, aber: Kinder wollen sich als Teil der Gemeinschaft erleben und ihren Teil dazu beitragen.
Das Verstehen-Wollen und die Auseinandersetzung mit den Kindern braucht Zeit. Häufig sagen Eltern bei solchen Inputs dann:
«Das dauert zu lang. So viel Zeit habe ich nicht!»
Ja, zu Beginn braucht dieses Vorgehen wahrscheinlich mehr Zeit als andere Verhaltensweisen.
Und doch lohnt es sich, sich die Zeit zu nehmen, um Dinge zu besprechen, die uns wichtig sind. Wenn Kinder erleben, dass ihre Bedürfnisse wichtig sind und beachtet werden, werden sie gelassener. Und sie fangen an, sich anders mitzuteilen als nur durch Schreien. Wenn Erwachsene gut für sich sorgen und ihre eigenen Bedürfnisse kennen und mitteilen, werden sie ebenfalls gelassener.
Durch mehr Gelassenheit und gegenseitiges Verständnis, werden Konflikte nach und nach weniger energie- und zeitraubend. Zusätzlich stärken Gelassenheit und Verständnis die Beziehung und erfüllen gleich mehrere Bedürfnisse aller Familienmitglieder:
- gegenseitige Verbundenheit und Unterstützung
- mehr Leichtigkeit und Wertschätzung im Umgang miteinander
- gemeinsames Lernen und «miteinander unterwegs sein»
Starke Eltern – Starke Kinder®
Basis für diesen Text ist unsere Zusammenarbeit mit Kinderschutz Schweiz und dem Elternkurs Starke Eltern – Starke Kinder®, der auf der anleitenden Erziehung beruht. Gemeinsam publizieren wir praktische, hilfreiche Blogartikel rund ums Erziehen. Dabei fokussieren wir nicht auf Tipps, wie ihr das Verhalten von Kindern beeinflussen könnt. Sondern darauf, dass ihr als Eltern gestärkt und ermutigt werdet.
Eine liebevolle und aufmerksame Haltung gegenüber den Kindern steht im Vordergrund, ebenso das Vermitteln von Werten, Regeln und Normen. Die Eltern werden darin bestärkt, ihre Verantwortung als Erziehende wahrzunehmen, indem sie ihre Kinder respektvoll und liebevoll anleiten und begleiten. Dabei achten sie stets die Rechte, die Bedürfnisse und die Persönlichkeit der Kinder.
Starke Eltern – Starke Kinder® ist ein Elternkurs, entwickelt vom Deutschen Kinderschutzbund. Aktuell finden die Kurse online statt.
Der Raum für alles, was das Begleiten von Kindern beinhaltet: Liebevolles und Leichtes. Schweres und Schwieriges, Einblicke und Einsichten. Dieser Raum wird gestaltet von Nadine Chaignat. Gefüllt mit Podcast übers Muttersein, Menüs für Kinder, Humorvollem aus dem Mamaalltag.