Diesen Text haben wir am 30. April 2020 erstmals publiziert.
«Du sollst erziehen». Aber: Wer sagt dir eigentlich, was ‚man‘ darf und was nicht?
Für diesen Artikel arbeiten wir mit Kinderschutz Schweiz zusammen. Uns ist wichtig, nicht nur humorvoll über Grenzerfahrungen im Begleiten und Anleiten von Kindern zu schreiben, sondern auch Ideen und Inspiration zu bieten, wie man schwierige Situationen entschärfen könnte.
Über-Ich, wie ich, Nadine, dieses Konzept liebe. Als Über-Ich bezeichnen Psychologen die Moralinstanz des Menschen. Also der Teil, der einen genau dann stupft, wenn das Kind das Einkaufszentrum zusammenbrüllt, weil es den Lolly nicht gekriegt hat und halt auch sonst das Leben gerade schwer erträglich ist.
Da füstert einem das Über-Ich dann ins Ohr:
«Aber ehrlich, solltest du dein Kind nicht so im Griff haben, dass du ohne Aufsehen zu erregen hier einkaufen kannst?»
Zuweilen ist es gar nicht «die Gesellschaft», welche unsere elterlichen Bemühungen Kinder zu erziehen, aburteilt. Häufig sind wir das selbst. Oft sind es nur Sekunden. Gedankenblitze. In denen ich mein Handeln kurz bewerte.
Habe ich gerade richtig reagiert? Meinte das Kind etwas anderes, als ich verstanden habe? War ich ungerecht? Darf ich so agieren? Sollte ich vielleicht anders? Müsste es nicht…?
Hätte ich ein bisschen mehr Zeit, würde ich mir überlegen:
Warum stresst mich, dass das Kind ständig vom Tisch wegrennt? Oder sich partout weigert, die extra dafür gekauften Outdoor-Schuhe anzuziehen und dafür mit den sauteuren und extra für schick gekauften Anna&Elsa Turnschuhen im Matsch rumrennen will? Oder wenn es auch beim vierten Mal rufen einfach nicht kommt?
Warum gehe ich automatisch davon aus, dass Kinder zu gehorchen haben und wenn sie das nicht tun, das zwangsläufg bedeutet, dass sie mich als Autoritätsperson nicht achten. Mich als Mutter nicht respektieren und überhaupt, schlicht nicht begriffen haben, dass das System hier auf der Welt nur funktioniert, wenn alle das tun, was die verantwortliche Instanz befehlt?
Denn: Wer sagt denn eigentlich, was ‚man‘ darf und was nicht? Was richtig ist und was nicht?
Erziehen: Woher kommen meine Vorstellungen?
Wie wir eine Situation mit den Kindern bewerten, hat sehr viel mit uns selber zu tun. Und dem, was wir als wichtig empfinden.
Daher lohnt sich in einem ersten Schritt herauszufinden, woher der eigene Stress in stressigen Erziehungssituationen überhaupt kommt. Und in einem zweiten Schritt: Meinem Herz entsprechend zu reagieren. Denn das Herz hat eigentlich ein besseres Gespür für das Kind als mein Über-Ich…
Wie das gehen kann? Hier eine Anleitung:
Setz dich hin und beantworte für dich folgende Fragen:
– Wie bin ich selbst erzogen worden? Worauf haben meine Eltern in der Erziehung Wert gelegt?
- Was will ich davon meinen Kindern weitergeben? Was nicht?
- Was ist mir wichtig in meiner Familie? Welche Werte habe ich?
- Welche Ziele verfolge ich mit meiner Erziehung?
- Welche Werte und Erziehungsziele hat mein Partner oder meine Partnerin?
Achtung!
Es besteht die Möglichkeit, dass Grosseltern, Freundinnen oder die Mehrheit der Gesellschaft deine Antworten auf diese Fragen nicht so lässig fnden.
Aber genau darum geht es ja.
Viel Stress in Situationen wie dem Einkaufszentrum haben Eltern, weil sie das Gefühl haben, sie müssten doch jetzt handeln. Nicht, um sich selber happy zu machen oder das Kind – sondern die Menschen um sich herum.
Und machen damit sich selber und das Kind unhappy und gestresst.
Voilà.
Denn ganz ehrlich:
Wenn ich weiss, dass mein Kind a) Hunger hat, b) die Hälfte der Nacht nicht geschlafen hat, c) ich das Kind gerade genötigt habe, eine Stunde mit mir durch Menschenmassen zu wuseln – dann verstehe ICH das Geschrei sehr gut. Und ich will das Kind in diesem Moment eigentlich auch nicht anmotzen oder bestrafen. Sondern habe vielmehr Mitgefühl und möchte es sanft beruhigen.
Habt ihr bemerkt? In diesem Ansatz liegt einer meiner Werte begründet:
Füreinander (da) sein. Einander unterstützen und helfen. Verständnis haben. Die Perspektive des anderen einnehmen.
Es lohnt sich, darüber nachzudenken, warum ich so mit meinen Kindern zusammenlebe, wie ich es tue.
Es lohnt sich, darüber nachzudenken, welche Werte mir selbst wichtig wären – und vor allem, welche nicht. Denn mit den Antworten fndet man schnell heraus, was einen in Situationen wie der im Kaufhaus stresst.
Ist es das Umfeld?
Bin ich einfach müde?
Interpretiere ich die Reaktion des Kindes auf ein Nein als Angriff auf etwas, was mir wichtig ist?
Wer ergründet hat, was ihm wichtig ist, schafft es schon mal viel eher, in kritischen Situationen so zu handeln, wie er in kritischen Situationen gerne handeln würde.
Die Fragen sind auch dazu da, herauszufnden, was weniger wichtig ist und worauf wir unsere Energie gerade nicht fokussieren wollen.
Auch wenn das andere in unserem Umfeld vielleicht anders sehen. Das Bewusstsein der eigenen Werte und Erziehungsziele kann helfen, dass Eltern die Erziehung ihrer Kinder leichter fällt und sie gelassener werden.
Denn es gilt: Unterschiedliche Werte und Erziehungsvorstellungen werden akzeptiert und respektiert– bis auf einen Punkt: Gewalt in jeder Form zerstört das Vertrauen zwischen Eltern und Kindern und auch das Selbstvertrauen des Kindes.
Wie kann ich meinem Kind unsere Werte weitergeben?
Kinder lernen und erfahren die Wertvorstellungen ihrer Eltern, indem sie
- beobachten, was ihre Eltern tun
- hören, was Eltern sagen
- erleben, wie Eltern in bestimmten Situationen reagieren
Teilt ein Kind beispielsweise geschenkte Süssigkeiten freiwillig, erhält es dafür von Mama und Papa anerkennende Reaktionen. Es erfährt so, dass Teilen ein Wert ist, der in der Familie wichtig ist.
Eltern, denen bewusst ist, was ihnen in der Erziehung wichtig ist, stärken damit auch ihr eigenes Selbstvertrauen: Sie können gelassen(er) damit umgehen, was die anderen (Freunde, Nachbarn etc.) für richtig oder wichtig halten und so ihren Kindern eigene verlässliche Leitlinien anbieten. Damit bieten sie ihren Kindern Halt und Orientierung in dieser vielfältigen Welt. Sie können gegenüber den Kindern viel deutlicher erklären, warum bestimmte Regeln in ihrer Familie Bedeutung haben, warum sie ihnen wichtig sind.
Starke Eltern – Starke Kinder®
Basis für diesen Text ist unsere Zusammenarbeit mit Kinderschutz Schweiz und dem Elternkurs Starke Eltern – Starke Kinder®, der auf der anleitenden Erziehung beruht. Gemeinsam publizieren wir praktische, hilfreiche Blogartikel rund ums Erziehen. Dabei fokussieren wir nicht auf Tipps, wie ihr das Verhalten von Kindern beeinfussen könnt. Sondern darauf, dass ihr als Eltern gestärkt und ermutigt werdet.
Eine liebevolle und aufmerksame Haltung gegenüber den Kindern steht im Vordergrund, ebenso das Vermitteln von Werten, Regeln und Normen. Die Eltern werden darin bestärkt, ihre Verantwortung als Erziehende wahrzunehmen, indem sie ihre Kinder respektvoll und liebevoll anleiten und begleiten. Dabei achten sie stets die Rechte, die Bedürfnisse und die Persönlichkeit der Kinder.
Starke Eltern – Starke Kinder® ist ein Elternkurs, entwickelt vom Deutschen Kinderschutzbund. Aktuell finden die Kurse online statt.
Hat nicht nur den Master in Psychologie. Sondern ist auch Master im Desaster, was ihr als Aufsichtsperson von vier Kindern sehr gelegen kommt. War mal Journalistin in Zürich, jetzt ist sie freischaffende Mutter in Bern.