Seit der letzten Sitzung mit meiner Psychologin sind einige Tage vergangen. Diese letzte Sitzung, als sie mich fragte, ob ich es mit Ritalin versuchen möchte. Ritalin. Soll ich oder soll ich nicht?
Ich habe selten so lange über eine Entscheidung nachgedacht. Irgendwie reizt es mich zu sehen, was dieses Zeug mit mir macht und andererseits habe ich auch Angst davor.
So erkläre ich es auch meiner Psychiaterin. Nochmal zeigt sie mir auf, was in meinem Hirn vorgeht mit und ohne Metylphenidat. Sie erklärt, dass wir mit einer sehr geringen Dosis starten und kontinuierlich steigern, sogenanntes Eindosieren. Ein Viertel der Tablette – zwei mal am Tag… erstmal. Dann von Woche zu Woche mehr.
Ich würde schnell merken, wann genug sei, meint sie.
Meine Neugier hat gesiegt und ich trage eine Packung dieser Medis in meiner Tasche nach Hause. Ich fühle mich ein bisschen wie ein Junkie. Versuche, das Zeugs zu verstecken – erstmal heimlich zu nehmen. Das Wort «Betäubungsmittelgesetz» hängt mir irgendwie nach.
Es kommt mir vor, als würde ich etwas Verbotenes machen.
Natürlich habe ich in meiner Jugend mal gekifft – auch andere Drogen hätte ich leicht ausprobieren können. Doch ich hatte irgendwie immer Angst vor einer Abhängigkeit oder dem Kontrollverlust, darum habe ich es ganz gelassen. Auch das Kiffen war nach ein paar Mal auch nicht mehr so das Wahre. Rauchen konnte ich eh nie.
Am ersten Morgen stehe ich vor der Packung, und betrachte die unscheinbaren, weissen Tabletten.
Ich viertle eine davon. Augen zu und durch, denke ich. Und es passiert erst mal NICHTS.
Ich fühle mich weder gepusht noch sonst irgendwie speziell und muss etwas lachen. Was habe ich mir bloss vorgestellt. Von 0 auf 100 wie wenn in den Filmen Drogen eingeworfen werden?
Nein. So ist es nicht. Nach und nach spüre ich eine Veränderung an mir. Ich habe das Gefühl, ich bin verlangsamt. Aber positiv verlangsamt, wenn man das so sagen kann. Meine Gedanken hüpfen nicht hin und her, ich fühle mich innerlich ruhiger.
Meine erste Performance, die ich «auf Ritalin» hinlege: Ich koche panierte Plätzchen.
Früher wurde die Küche gleich mitpaniert, ein Chaos auf dem Küchentresen, die Plätzchen unregelmässig schwarz, braun oder noch hell. Aber heute. Heute klappt alles am Schnürchen.
Ich gehe das Kochen strukturiert an und mache alles Schritt für Schritt. So reihe ich gleichmässig panierte Schnitzel in der Gratinform auf, nehme eins nach dem anderen raus und frittiere es im heissen Öl. Raus kommen acht wunderbare, braungebrannte Schnitzeli. Ich wundere mich ein bisschen.
Dass jetzt alles so reibungslos und ohne grosses Chaos geklappt hat, muss nicht am Ritalin liegen. Vielleicht habe ich heute einfach einen guten Tag. Läuft!
Eine Woche später bin ich bei einer halben Tablette dreimal am Tag. Und ich bemerke wesentliche Unterschiede. Meine Geduld scheint geradezu endlos im Gegensatz zu vorher. Ich ziehe den ganzen Morgen die Bäbis meiner Tochter um, so wie sie es möchte.
Bis vor ein paar Tagen habe ich nach dreimal umziehen die Bäbis quer durch den Raum geworfen. Wie ein trotzendes Kind «Ich will nicht mehr!!!» geschrien.
Ich warte, bis mein Sohn sich die Hosen und Schuhe selbst angezogen hat. Und das dauert gefühlt STUNDEN. Aber mich stresst es gerade gar nicht. Meine innere Unruhe scheint auch verschwunden. Ich fühle mich entschleunigt, aber wirklich in einer guten Art.
Himmel, der Scheiss ist wirklich gut – denke ich.
Ritalin, diese fiese Droge, mit der man Kinder ruhig stellt. Man wird damit wirklich ruhiger, und das tut mir grad so gut!
Endlich!
Obwohl meine Therapeutin ja meint, ich sei nun in einem normalen Tempo unterwegs. Nicht ruhig gestellt, sondern auf normal gestellt.
Natürlich stellt sich die Frage, was ist schon normal. Und ich verstehe jeden Gegner von Ritalin, aber in meiner Situation, die für mich, für meine Beziehung und meine Kinder kaum mehr tragbar war, war es genau das Richtige.
Zudem ist die Therapie nicht zu Ende. Man nimmt nicht nur einfach diese «Drogen» und fertig ist. Nein, man arbeitet an seinen Schwachpunkten, man erarbeitet Strategien, die im Alltag helfen. Man sucht die Stressoren und findet Lösungen, diese zu umgehen.
ADHS – ich habe mein Leben lang so viel darüber gehört, mich aber nie wirklich damit befasst.
Die vier Buchstaben erklären meinen sprunghaften Lebensweg, den ich ja trotzdem irgendwie gemeistert habe. ADHS kann auch freisetzen, nicht bloss einschränken.
Bisher war ich aber auch nur für mich selbst verantwortlich, konnte hin und her hüpfen wie ich wollte. Aber hier und jetzt bin ich auch für zwei kleine Menschen zuständig.
Die es verdient haben, eine ausgeglichene, glückliche und vor allem geduldige Mutter zu haben. Darum nehme ich unterstützend Ritalin.
Irgendwann kommt eine neue, andere Lebensphase, die ich dann wieder selber stemmen kann.
Zur Therapie werde ich weiterhin gehen. Weil es so so gut tut, dass man endlich verstanden wird. Dass jemand das Chaos im Kopf, Herz und Körper erklären kann und wirklich gute Inputs zum Entwirren gibt.
Verständnis.
So etwas Wichtiges. Denn ja, es ist eine Erkrankung und ja, ich leide und litt darunter.
Endlich hat mein Chaos im Kopf einen Namen, endlich bekomme ich die Hilfe, die ich längst benötigt hätte.
Wie bei allen Erkrankungen oder speziell psychischen Erkrankungen ist es für Nichtbetroffene sehr schwer zu verstehen, was da vor sich geht. Niemand kann fühlen, was ich fühle.
Ob ich Ritalin meinem Kind geben würde? Nun ja, schwierigste Frage ever. Denn ich weiss, wie ich mich damit fühle, aber ist es auch das Richtige für mein KInd? Wahrscheinlich würde ich erst alternative Möglichkeiten durchgehen. Aber ich würde mein Kind immer mit einbeziehen, offen kommunizieren und alle Optionen, die es hat darlegen. Ich würde und müsste wohl darauf vertrauen, dass mein Kind weiss, was ihm gut tut.
Denn auch hier: Ich kann nicht fühlen, was mein Kind fühlt. Nur ahnen.
Bild: Joanna Kosinska Unsplash
Rahel lebt mit Mann, Familie und Schweinen auf dem Land. Für ihre zwei Kinder hat sie High Heels, Minikleidchen und dazu passendes Täschli eingetauscht gegen Trekkingschuhe, Funktionskleidung und diverse Traghilfen und Tragetücher. Ob sie alles so meint, wie sie schreibt? Vielleicht…
Liebe Rahel
Vielen Dank für deine beiden Beiträge zu ADHS und Ritalin. Ich habe ebenfalls ADHS, die Diagnose auch erst im Erwachsenenalter erhalten und habe auch ein sehr aktives Kind zuhause (wo eine Diagnose noch offen ist). Ich finde es wichtig offensiv über ADHS zu sprechen. Es gibt sehr viel Unwissen und Vorurteile, die es abzubauen gilt. Vorallem auch was Ritalin betrifft. Ich glaube die allermeisten Betroffenen (ob selbst oder als Eltern) nutzen Ritalin nicht einfach so. Es ist eine sehr individuelle Entscheidung, der aber meistens ein sehr grosser Leidensdruck vorangeht. Und ich argumentiere jeweils so: hättest du sonst eine Krankheit die nicht geheilt, aber durch ein Medikament gelindert werden könnte, würdest du wohl auch nicht einfach kategorisch ablehnen.
Für uns ist dieser ganz normale Alltag anstrengender und herausfordernder als für andere. Darum ist es gut und richtig den Mut zu haben Hilfe in Anspruch zu nehmen. Auch ist es immer wieder wichtig daran zu denken, das es (vorallem) eine genetisch bedingte Krankheit ist. Es ist niemandes Schuld, auch das zeitweise Unvermögen nicht. Es ist nur an uns einen Weg zu finden damit umzugehen.
Ich kann dir die Organisation ADHS 20+ sehr ans Herz legen. Es ist eine Informationsstelle für Erwachsene mit ADHS und bietet auch viele Kurse und Treffen für Betroffene an. Manchmal tut es gut zu sehen dass man bei weitem nicht alleine ist mit seinen Herausforderungen.
In diesem Sinne: falls du mal Lust hast dich auszutauschen, kannst du mich gerne auch persönlich anschreiben.
Alles Liebe!