Mama hat ADHS – die Diagnose aus dem Nichts

Da sitz’ ich… mal wieder. Seit ich Kinder habe sitze ich jedes Jahr ein bis zweimal bei meinem Hausarzt und lasse meine Blutwerte checken. Die letzten Wochen, nein, sogar Monate waren voll mit schlechter Laune, Kranksein, bodenloser Demotivation, vorherrschender Müdigkeit und depressiven Verstimmungen.

Ich war nicht mehr ich. Ich war weder die Mutter noch die Hausfrau, Ehefrau oder Freundin, die ich eigentlich sein könnte.

Ich war laut, jeden Tag, zu nah am Wasser gebaut, überhaupt nicht zuverlässig und mit jedem noch so kleinen bisschen Etwas total überfordert und mental überlastet.

Jetzt sitze ich im Zimmer der Arztpraxis und unterhalte mich mit meiner Ärztin, naja, eher ein Monolog. Denn ich schütte ihr mein Herz aus, immer wieder kämpfe ich mit den Tränen. Sich zu unterhalten dient normalerweise der Ablenkung, denn Blut abnehmen gehört so gar nicht zu meinen Hobbies. Ein Grund, warum ich diesen Besuch mal wieder sehr weit hinaus gezögert habe.

Ich erzähle ihr von meinem Sohn, wie er seine Grenzen austestet. Wie schlecht er schläft, wie schlecht ich schlafe. Dass er voller Energie ist und ich meistens bereits um 14.00 Uhr todmüde, bettfertig und erledigt wäre. Ich jammere ihr vor, dass er meine gesamte Aufmerksamkeit und Kraft raubt. Und wenn die Grosse dann auch noch etwas will, explodiere ich wegen jeder Kleinigkeit.

Die Ärztin hört mir zu, nickt ab und an oder gibt verständnisvoll ein «Mmh oder aha» von sich.

Nachdem sie mir zwei Röhrchen Blut abgenommen hat, sieht sie mir direkt in die Augen und fragt: «Haben Sie schon mal an ADHS gedacht?»

«Klar, aber das kann man doch in diesem Alter noch nicht abklären – frühstens wenn er in die Schule kommt?», antworte ich etwas verwirrt. Sie weiss doch, dass mein Junior gerade mal zwei Jahre alt ist.

«Nein, nicht bei ihrem Sohn, sondern bei ihnen selbst.»

Ich sitz da wie ‘e klöpfte Aff’. Will die mir jetzt sagen, ich brauche Aufmerksamkeit? Ich sei nicht ganz dicht? Habe ich zu sehr gejammert?

Ich sehe mich schon die Arztpraxen der Umgebung abtelefonieren, denn ich brauche einen neuen Hausarzt. Meiner hat mich gerade für verrückt erklärt.

«Ich kenne eine sehr gute Praxis hier im Kanton, sie sind spezialisiert auf ADHS. Ich könnte sie überweisen. Wir müssten nur kurz einige Fragen  zusammen durchgehen.»

Noch etwas starr von der Vermutung, ICH hätte eine Aufmerksamkeitsdefizit-Störung, nicke ich zustimmend.

Die Fragen muss ich mit im Spektrum von «niemals» bis «sehr oft» beantworten.

Einige Fragen hängen mir heute noch nach:

  • Wie oft haben Sie Probleme, sich an Termine oder Verabredungen zu erinnern?
  • Wie oft sind Ihre Hände bzw. Füsse bei langem Sitzen in Bewegung?
  • Wie oft wurde Ihnen gesagt, dass Sie nicht Ihr ganzes Potenzial ausschöpfen?
  • Wie oft verlegen sie Wertsachen wie Schlüssel und Portemonnaie?

«Kann ich diese Fragen auch mit ‘immerzu’ beantworten?», höre ich mich sagen. Meine Ärztin lächelt mir zu und sagt: «Ich schreibe die Überweisung. Sie können sich nächste Woche bei der Psychiaterin melden um einen Termin zu vereinbaren.»

Psychiaterin. Bin ich etwa doch nicht normal?

Gut, das habe ich ja schon immer gewusst, aber bisher habe ich angenommen, dass ich nun mal einfach so bin. Ein Huhn, eine Chaotin, eine mit Pfupf im Arsch, die überall und immer dabei sein will. Und jetzt soll das, also soll dieses ICH eine Störung sein?

Bin ich gar nicht ich? Aber was ist denn schon normal? Gibt es das überhaupt? Gedanken rasen durch meinen Kopf.

Zwei Wochen später sitze ich zum ersten Mal in meinem Leben auf der Couch. So sagt man das doch, wenn man zum Psychologen geht. Moment – ich gehe ja gar zum Psychiater!

Einmal mehr sitze ich in der Arztpraxis. Mein Gegenüber ist eine kleinere, ältere Dame mit der Brille auf dem Kopf. Sie studiert meine Akte sowie die gefühlt tausend Fragebögen, die ich und auch mein Mann ausfüllen mussten.

«Ihr Muskeltonus ist komplett angespannt – merken Sie das?» Mit diesem Satz beginnt sie die Stunde. «Ich bin auch ein bisschen angespannt – immerhin checken wir ab ob ich normal bin oder nicht», ist meine etwas freche Antwort. Sie muss lachen, was die ganze Situation auflockert. «Sie sind normal, nur ihr Hirn funktioniert vielleicht nicht so ganz normal wie bei Anderen.»

«Mein Hirn? Ist es denn eine Erkrankung vom Hirn?» Jetzt hat sie meine volle Aufmerksamkeit. Denn über ADHS weiss ich so gut wie Nichts. Ausser, dass es was mit Aufmerksamkeit und Ritalin zu tun hat. Irgendwie.

Mama hat ADHS. Sie klärt mich auf. Ein Exkurs. Hier die Kurzfassung:

«ADHS steht für Aufmerksamkeits-Defizit-Störung. Die Diagnose ist seit langem wissenschaftlich belegt, neurobiologisch erklärbar und mittlerweile auch bei Erwachsenen anerkannt. Als Kernsymptome gelten: Unaufmerksamkeit, Impulsivität mit oder ohne Hyper-/Hypoaktivität.»
(Copyright elpos Schweiz, März 2019)

Sie erklärt, erzählt und führt aus. Ich bin wie gebannt – denn ich dachte bis heute, ADHS heisst, dass jemand unbedingt Aufmerksamkeit haben will und die darum immer etwas aufgedreht und laut sind. Ich habe nicht gewusst, dass man das so nennt, weil Betroffene Schwierigkeiten haben, gewissen Dingen Aufmerksamkeit zu schenken.

Und je mehr sie redet, desto mehr verstehe ich – mich selbst!

Instabilität der Stimmung – Emotionales Überreagieren – Desorganisation – Impulsivität (emotionale und kognitive) – mangelhafte Affektkontrolle. Die Störung liegt im Stirnhirn.

Neurotransmitter – Dopamin – Noradrenalin – Serotonin.

Die Botenstoffe verantwortlich für Aufmerksamkeit, Impuls, Abtrieb, Stimmung, Emotion, etc., bleiben zwischen den Spalten hängen und sind somit unzureichend vorhanden.

Nach der ersten Sitzung ist mein Kopf voll. Voll mit Informationen, die ich erst mal verarbeiten muss. Himmel! Irgendwie bin ich glücklich aber auch schockiert. Irgendwie erleichtert aber auch ängstlich. Habe ich wirklich ADHS?

Natürlich kann sie die Diagnose nicht nach einem Termin stellen – es folgen weitere Sitzungen.

Eine Sitzung ist mir besonders im Gedächtnis geblieben.

Wir unterhalten uns übers Muttersein, was es mit mir macht, wieso ich so gestresst bin, warum ich vor meinen Kindern anders war.

«Wissen Sie, ich behandle viele Mütter. Viele denken sie hätten erst durch die Schwangerschaft oder mit dem Zusammenleben mit Kindern eine ADHS bekommen. Aber das stimmt so nicht. Es war immer da. Nur hatten all diese Mütter, genau wie Sie, sehr gute Strategien, damit umzugehen. Man war bisher nur für sich selbst verantwortlich. Jetzt müssen sie Termine für 3-5 Personen im Kopf haben, sie müssen nicht nur sich selbst parat machen am Morgen, sie entscheiden nicht mehr selbst über ihr Leben, sie haben ‘Mitesser’. Bisher angewandte Strategien funktionieren so gar nicht mehr. Pünktlichkeit zum Beispiel. ADHSler sind eher mal zu spät – ihre Strategie war es, immer 15 Minuten vorher loszufahren. Nur… jetzt haben sie vielleicht eine volle Windel, die sie wechseln müssen oder ein Kind bekommt kurzfristig Hunger – wird krank – was auch immer. Darauf reagieren sie nicht ‘normal’, sie sind gestresst, brauchen ihren Rhythmus. So liegt es nun an uns, neue Strategien auszuarbeiten. Ich helfe ihnen dabei.»

Ich hätte heulen können, ich fühlte mich so verstanden und erleichtert.

So wurde meine erste, neue Strategie (von vielen) geboren: Bei Verabredungen KEINEN FESTEN ZEITPUNKT abmachen sondern eine ZEITSPANNE vereinbaren. Nur dieser kleine, feine Unterschied, nahm mir so viel Stress ab.

Mit meinem überlasteten Kopf mit meinem nichtsoganzfunktionierenden Hirn, wäre ich selbst nie auf diese einfache Lösung gekommen.

So kam der Tag, an dem ich meiner Psychiaterin gegenüber sass und sie mir mitteilte: «Sie haben ganz klar eine Aufmerksamkeit-Defizit-Störung inklusive Hyperaktivität, Hyperthermie (ach, daher mein Schwitzen! Endlich eine Erklärung), gestörter Impulssteuerung, Reizfilterschwäche – halt allem was so dazu gehört. Meine Empfehlung wäre nebst psychotherapeutischer Begleitung, Ritalin. Es würde ihnen auch bei der Impulskontrolle helfen.»

Ritalin. Dieses Unwort. Diese Droge. Mit dem stellt man mühsame Kinder ruhig.

Studenten nehmen das als Pusher vor den Prüfungen. Ritalin. Mit so viel Negativem belastet. Chemie in seiner reinsten Form. Ritalin. Bei manchen darf man dieses Wort nicht in den Mund nehmen, sonst löst es Empörungswellen aus.

Natürlich bin ich mittlerweile aufgeklärt. Weiss was dieses Methylphenidat macht mit dem Hirn, wie es den verwirrten und verirrten Botenstoffen hilft. Aber brauche ich das wirklich? Will ich das denn überhaupt?

Um die Bedenkzeit sowie den dazugehörigen Lesestoff bin ich mehr als froh. In mir herrscht eine Mischung aus Angst und Neugier. Angst – macht das aus mir ein anderer Mensch? Neugier – macht das aus mir eine verbesserte Version von mir? Rahel 2.0 sozusagen.

Meine Entscheidung? Die steht noch offen. To be continued.

 

In der nächsten Podcastfolge, welche morgen Mittwoch, 8. Januar, veröffentlicht wird, sprechen Rahel und Evelyne über Rahels Weg vom ‘Verdacht’ zur Diagnose, was das ADHS mit ihr als Mama gemacht hat und wie sie ihr «nicht ganz normales Hirn» in Schach hält.

Bild: Sandra Stirnimann

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8 Kommentare zu “Mama hat ADHS – die Diagnose aus dem Nichts

  1. Hallo Rahel

    Ich lese deinen Text mit ganz viel Tränen in den Augen, ich muss mehrmals wieder anfangen mit lesen. Es berührt mich sehr tief, denn die meisten “symptome” von denen du erzählt sind bei mir identisch. Ich habe schon einiges ausprobiert um mir zu helfen, entspannung, bachblüten-therapie, schwimmen, etwas zeit für mich alleine. Aber dies alles hilft nichts, kaum bin ich zu hause bei meinen drei kindern (4 1/2 jahre, 3 jahre und 6 monate), sind meine nerven wieder aufgebraucht.
    Mein sohn 41/2 pinckelt seit zwei wochen wieder in die hose, aber statt ihm zu helfen bin ich total genervt. Er sagt ich “schipfe” zu oft. Kann ich auch verstehen 😉

    Ich bin immer total angespannt und jeden tag denke ich, hey nimms doch mal etwas lockerer. Aber ich bringe dies einfach nicht zustande.

    Hast du mir einen tipp, wie ich nun vorgehen könnte?

    Ich grüsse dich herzlich und wünsche dir ganz viel kraft und mut

    Svenja

  2. Ich kann dich sehr gut verstehen. Kenne ich alles auch. Leider kam ich erst mit 50 zur Diagnose, nachdem mich meine nach IHRER Diagnose darauf aufmerksam machte. Endlich Verstand ich mein Xhaotentum und meine Reizbarkeit, meine Schwierigkeit, Eindrücke zu sortieren… etc. Von meiner Ärztin zu hören, dass dass nicht mein Versagen ist, sondern typische Auswirkungen von ADHS sind, hat mich enorm entlastet. Ritalin habe ich nicht vertragen, also liess ich es wieder weg. Mit 60 veranlasste mein Psychiater nach einem Burnout eine erneute Abklärung und wir machten dann einen Versuch mit Focalin, und das hilft mir nun wirklich sehr. Inzwischen bin ich 70, Focalin hilft mir nach wie vor, meine nächsten Angehörigen wissen um die Diagnose und unterstützen mich verständnisvoll. Vielleicht hilft dir mein “Geständnis” etwas. Und lass dich bezüglich Medikamente nicht negativ beeinflussen, probier doch einfach aus! Von Herzen alles Liebe und Gute auf deinem Weg “Leben mit ADHS”.

  3. Liebe Rahel
    Ich habe gegen Ende letzten Jahres über AD(H)S bei Erwachsenen gelesen und mich absolutnin den Symptomen (ohne das “H”) erkannt. Ich habe das schon immer gehabt, konnte es wohl aber gut kaschieren oder verstecken. Meine Impulsivität ist extrem!
    Jedenfalls versuche ich es jetzt mal mit Neurofeedback, aber würde auch gerne zu einer Spezialistin gehen.
    Könnte ich den Namen und die Angaben zu jener Psychiaterin, bei der du warst, von dir haben? Wäre toll.
    Liebe Grüsse
    Simoneä

  4. Hallo Rahel,

    ich lese den Text und fühle jede Zeile.
    Schlucke einen Kloß im Hals runter und kämpfe mit den Tränen. Nächste Zeile.
    “Ich hätte heulen können, ich fühlte mich so verstanden und erleichtert.”
    Treffer, versenkt.
    Ich beginne in zwei Wochen mit medikamentöser Therapie. Hoffnung und Angst gehen Hand in Hand.
    Wie geht es dir heute?
    LG
    Ella

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