Mutterschaft – Leben mit der Unbekannten

Dieser Text bezieht sich nicht in erster Linie auf Elternschaft, sondern auf Mutterschaft. Obwohl sich sicherlich auch Väter darin wiederfinden werden. Ich habe ihn als Mutter und für Mütter geschrieben.

Bild: Vanessa Käser

Alles an Mutterschaft macht einen verletzlich.
Wer Mutter wird, kehrt sein Innerstes nach aussen.

Mutterschaft ist kein eindimensionaler Bereich.
Mutterschaft ist hochkomplex.

Alles spielt plötzlich eine Rolle.

Das ganze Leben, das man gelebt hat zuvor.
All die Prägungen, die geformt haben.
Das Herz, welches Beziehungen in ihrer tiefsten, aber auch verletzendsten Form erfahren musste.
Der Alltag selbst, unbeschwert oder belastend.
Der eigene Körper. Gesund oder angeschlagen.
Wie wohl man in sich selber ist. Ob man bei sich und für sich ist.
Ängste, so viele davon. Die man vorher ignorieren oder verdrängen konnte.
Die Belastbarkeit.
Die Grenzen.
Die Persönlichkeit.

Das ist umfassend.
Wahnsinnig umfassend. Und in der Komplexität überfordernd.

Doch das ist nicht alles,
die eigene Geschichte.

Denn Mutterschaft ist Beziehung.
Da kommt noch jemand dazu, mit derselben Fülle an Herz, Persönlichkeit, körperlichen Befindlichkeiten und Grenzen.

Zwei Universen werden aufeinander losgelassen, explodieren und in dieser neuen, wunderbaren Galaxie. Ist man sowohl verloren, wie erfüllt von der Schönheit, die sie mit sich bringt.

Täglich bewegt man sich in diesem grenzenlosen Raum. Ohne Ausgang.
Es gibt nur noch diese Welt. Die mit dem Kind.

Doch das ist nicht alles,
die eigene Geschichte,
das Kind.

Wie wenn es nicht schon genug wäre.
Kommt diese Komponente hinzu, die die Überforderung komplett macht:

Die Versorgung des Kindes.

Wo man sich zuvor spezialisiert hat.
Beruflich.
Ist man plötzlich zuständig für Bereiche, von denen man nicht den Hauch einer Ahnung hat. Muss Essen, Schlaf, Hygiene, Gesundheit, Förderung der Kompetenzen, Bindungsfähigkeit und soziale Kompetenz ermöglichen.

Und all diese Bereiche, die die Versorgung des Kindes beinhalten, sind Grauzonen.

Etwas, das man meistens erst dann merkt, wenn man drin ist.
Dass Schwarz-Weiss nicht funktioniert. Egal, wie fest man es sich wünscht.
Es gibt keine richtige Antwort.
Keine Wahrheit.
Für gar nichts.
Für niemanden.

Letztendlich ist man auf sich selbst zurückgeworfen.
In einer unbekannten Galaxie.
In der man sowohl Ernährungsspezialistin, Medizinerin, Biologin, Soziologin, Psychologin, Erzieherin, Pädagogin und was immer noch alles sein müsste.

Und schlicht nicht ist.

Es gibt Tage, an denen man weint. Ob der Fülle dieser Anforderungen, denen man nie gerecht werden würde.

«Ich bin nur ein Mensch», möchte man rufen.
«Ich habe keine Antworten.»
«Ich habe keine Kompetenzen für all diese Aufgaben, die das Kinderhaben mit sich bringt.»
«Ich bin keine Spezialistin für Kinder. Auch nicht für meine.»
Für’s Leben generell nicht.

Und trotzdem muss man gezwungenermassen Entscheidungen treffen.
Für sich selber.
Für die Kinder.
Und man möchte gute Entscheidungen treffen.
Solche mit Konsequenzen, die einem selber, aber vor allem dem Kind ein gutes Leben ermöglichen.

Doch was sind ‘gute’ Entscheidungen?
Worauf basieren sie?

Letztendlich, auch das realisiert man womöglich erst nach einer gewissen Zeit, gibt es niemandem, der einem das Antworten abnehmen kann.
Nur viele, die Antworten anbieten.

Und so findet man sich bei jeder einzelnen Frage. Vom Anziehen, über Ernährung, über Erziehung, über Schlafgewohnheiten, Hygiene, Hobbies. Bei jeder einzelnen Frage findet man einen Haufen Antworten – teilweise mit Expertensternchen markiert – aus dem man sich dann die allerrichtigste herauspicken kann. Soll. Muss.

Nur eben: Welche?

Mutterschaft ist zuweilen mit grösster Unsicherheit besetzt.

Weil noch niemand diese Galaxie, in der man sich befindet, erforscht hat.
Man selber Entdeckerin und zugleich die Wiege der Schöpfung ist.
Man selber Fragende ist, Suchende ist. Den Weg jedoch schon kennen sollte.

Mit der Mutterschaft kehrt man sein Innerstes nach aussen.
Man lebt in aller Öffentlichkeit, in aller Deutlichkeit, sich selber aus.
Entscheidungen, die man teils in totaler Unwissenheit getroffen hat.
Im Herantasten an etwas, das man fühlt und von dem man glaubt, dass es gut sei.
Und jeder um einen herum schaut zu.
Hört zu.
Urteilt.

Viele sehen Fehlbarkeiten.
Die der Mütter. (Der Väter.)
Und die der Kinder.

So vieles gibt es zu bemängeln und JA, es gibt vieles zu bemängeln, denn da IST ein Mangel.

Ein Mangel an Wissen.
Ein Mangel an Kompetenz.
Ein Mangel an Kraft.
Ein Mangel an Zeit.
Ein Mangel an Ressourcen.

Wie soll ein einziger Mensch in sich alles vereinen können?

Wenn bereits die Welt, in der er lebt, Mängel hat.
Niemals die Fülle bietet, die man bräuchte, um diese grosse Aufgabe makel- oder besser mangellos zu erfüllen.

Die einzige Antwort, die mit Sicherheit steht.

Ist die: Dass wir alleine durch Barmherzigkeit mit uns selber und miteinander diesen Mangel ausgleichen können. Lebbar machen können. Aushaltbar und tragbar machen können.

Dass wir Menschen brauchen, die da sind. Ohne Antworten. Ohne Erwartungen.
Mit denen wir über Mängel trauern dürfen. Vielleicht sogar Fülle finden.

Menschen, die uns leiten darin, dass wir unsere Antworten finden. Für uns lebbare Antworten finden.

Denn wir alleine sind das Zugangstor zur Galaxie.
Die Galaxie selbst.

Im Bewusstsein um den eigenen Mangel. Sind es nicht vorgefertigte Antworten, die wir brauchen, sondern Menschen, die selber um ihre Beschränktheit wissen. Darüber, dass Unsicherheit und Mangel zum Leben gehören, wir damit leben müssen. Wir alle.

Jedoch unser Leben und unsere Freude, unsere Galaxie nicht davon bestimmen lassen sollen.

Wo die eigenen Unzulänglichkeiten offensichtlich sein dürfen. Für einen selbst – und auch für andere. Dort ist Boden, auf dem man feste Schritte gehen darf. Sind Unsicherheit und Mangel offensichtlich, können sie nicht verdeckt untergraben und untermauern.
Müssen wir nichts verstecken oder vertuschen.
Können wir damit beginnen, uns zu sein.
Können wir damit beginnen, unsere Kinder werden und sein lassen.

Je geübter wir darin sind, umso sicherer werden die Schritte, umso fester der Boden.

Alles an Mutterschaft macht einen verletzlich.
Wer Mutter wird, kehrt sein Innerstes nach aussen.
Und jede Mutter braucht Menschen, die sie und ihre Galaxie umarmen. Egal, wie fremdartig sie scheint. Die sie umarmen. Sie bestärken darin, dass sie alles hat, was sie braucht, um sich darin zurecht zu finden.

Jede Mutter braucht Zeit. Zeit, um ein Gefühl für diese neue Welt zu bekommen. Zeit, sich darin zurecht zu finden. Zeit, sie zu entdecken. Sich selber zu entdecken. Denn nichts darin ist, wie es vorher war.

Oder vielmehr, alles darin ist mehr sich selber, als man es vorher war.

Mutterschaft ist grösser als wir selber. Glauben wir.
Das macht sie überwältigend.
Doch das stimmt nicht. Die Grösse ist gleichzeitig in uns selbst.
Es ist falsch zu glauben, wo Schwäche und Verletzlichkeit sind, wäre keine Stärke. Im Gegenteil.

Wir SIND die Stärke, die durch das Kinderhaben in uns freigesetzt wird.
Doch der Weg, sie zu sein, geht über die Schwäche.

Mutterschaft macht verletzlich, aber sie kann auch heilen.

Darum lasst uns diese Galaxien umarmen.
Lasst uns Mütter umarmen.
In ihrer Unzulänglichkeit, in ihrer Fehlbarkeit. In Ihrer Unsicherheit. In ihrer Verletzlichkeit. In ihrer Trauer. In ihrem Unvermögen.
Aber vor allem:
Lass uns Menschen sein, die sie an den Ort führen, an dem das JA zu ihnen grösser ist als die Neins.

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