Die Nacht war nicht so schrecklich wie die letzte. Aber in ihrer Art auch schrecklich. Schrecklich, weil ich gefühlt die Hälfte der Nacht damit zugebracht habe, Kinder zu beruhigen, zu trösten, zu halten – stets mit dem Approach, sie innert kürzest möglicher Zeit wieder dem Schlaf zu übergeben.
Bloss: Das klappte nicht so, wie gewünscht.
K3 scheint zu zahnen. Doch bevor ich das erlösende Zäpfli zückte, glaubte ich erst mal an Nachttrotzigkeit. Diese Art von Übellaune, wenn Kinder wach werden und gleichzeitig weiterschlafen wollen. Bauchweh schloss ich aus – wenn auch nicht ganz überzeugt, aber ich hielt mich an die Trotz-Hypothese, um einen Leitfaden im Treatment des Wachheitszustandes des Kindes zu haben. Verwarf die Hypothese dann doch relativ schnell, weil das Kind den Schnuller in hohem Bogen ausspie, mit dem Finger auf das Bad zeigte und «Nunu» sagte. Nunu, so habe ich herausgefunden, bedeutet manchmal: Durst.
Ahso, das Kind hatte Durst.
Neue Leithypothese: Es würde trinken und anschliessend nach kurzen Trageminuten schlafen.
Doch das Kind trank, aber schlief nicht. Und das, obwohl es unbedingt wollte. Fast eben so verzweifelt wie ich es wollte.
Irgendwann dann so nach einer Stunde kam er endlich, der Schlaf. In einer verrenkt-verreckten Position, die dem Kind irgendwie zu helfen schien, obwohl sie aussah, als würde man so eher nächtelang wachbleiben statt schlafen.
Nach einer halben Stunde, ich war gerade so richtig weg, weinte das Kind erneut. «Gib ihm Schmerzmittel», raunte der Mann neben mir schlaftrunken und leicht nachttrotzig. Das Kind zeigte auf die Tube Osa-Salbe und da erhellte sich der Grund für die Unruhe: Zahnschmerzen. Also Zäpfli. Das nach einer weiteren halben Stunde – inzwischen waren wir bei 3.00 Uhr angelangt – zu wirken begann.
Fin bref: Der Schlaf war wenig.
Das zahnende Kind fuhr bei Tagesanbruch fort mit dem, was in der Nacht begonnen hatte. Es weinte. Bitterlich. Nonstop. Wollte hoch. Wieder runter. Hoch. Wieder runter. All meine Vormittagspläne schwammen mit seinen Tränchen im Fluss der Zeit weg und ich sah mich bis Mittag vorwiegend mit K3 auf mir drauf rumsitzen, stehen oder gehen.
K3 war müde. Saumüde. So wie ich. Doch schlafen kam nicht in Frage. Ich verzweifelte. K3 ebenfalls.
Als das Mittagessen auf dem Tisch war, kam der Schlaf. Zwischen Kartoffeln und Karotten nickte K3 in seinem Hochstuhl ein.
Als das Mittagessen vom Tisch war, kam das Erwachen. K3 war noch müde. Aber hatte Hunger. Während ich ihm Essen verabreichte, machten K1 und K2 ein Stockwerk oberhalb Party. Ich kämpfte um meine Nerven, die mir stets wieder entglitten, doch die ich trotzdem nie aus der Hand geben durfte. Ein Ermüdungskampf.
Immerhin beruhigte sich mit dem Essen K3. Woraufhin K2 beschloss, dass ihre Stunde nun gekommen sei. Das Weinen ging weiter. Einfach paar Etagen höher, schriller und nerviger.
Als ich nach einem verkürzten Mittag die Kinder ins Auto packte, um einkaufen zu gehen (yay, beglückwünscht mich zur Wahl des Zeitpunkts des Grosseinkaufs), hing mein Nervenkostüm in Fetzen von mir runter.
Eine solch abgrundtiefe Verzweiflung kenne ich erst, seit ich Mutter bin.
Natürlich war ich zuvor mal richtig deprimiert. Oder verzweifelt. Sah zuweilen kaum Auswege aus schwierigen Situationen.
Aber die Geartetheit, mit der ich mit den Kindern und von den Kindern zur Verzweiflung gebracht werde, kannte ich so nicht.
Selten habe ich derart heftige Impulse verspürt. Eine unglaubliche Wut, die in mir aufflammt – ja, aufflammt. Auflodert. Und die ich am liebsten rauslassen würde. Feuerspeiende Dranchenmutter. Ich bin überzeugt, wäre die Wut draussen, wäre sie weg.
Keine Ahnung, wie die Kinder es schaffen, sowas in mir zu produzieren.
Das Ausmass dieser Hochspannung ist deswegen so enorm, weil man sich als Eltern der Verzweiflung nicht hingeben darf. Man ist die letzte Bastion. Der Anker. Der Pfeiler, auf dem alle drauf stehen. Die Rettungsinsel. Wäre bei mir die Luft draussen, würde unser hübscher Eltern-Kind-Alltag zusammenklappen wie ein Kartenhaus. Dieser immense Kräfteverschleiss, der Verzweiflung nicht Raum zu geben, die Oberhand und die Nerven zu behalten. Das zerreisst einen innerlich mehrmals und vollständig.
Zum Zeitpunkt der Abfahrt hätte ich nach beschriebenem Vormittag die Kinder jedem überlassen, der sie haben wollte. Nur weg. Weg mit dem, was mich innerlich und körperlich so fertig macht. Weg mit dem Auslöser von Unbequemem in meinem Leben. Weg mit dem, was mich zu einem Monster macht, das meine Fassade zerschlissen zurück lässt und mich als Menschen, der nicht so ist, wie ich ihn haben will und wollte. Weg!!!
Ich habe die Kinder dem Kinderparadies des Einkaufszentrums überlassen. Sie wollten das so. Ich war natürlich nicht dagegen.
Als ich nach einer Stunde Powershopping (vornehmlich für die Kinder) zurück kam, strahlten sie, rannten auf mich zu mit einem «Mama», das mein gerade noch zerschundenes Herz schmelzen liess. Selbstgebastelte Hippiestirnbänder auf dem Kopf. In Unterleibchen gekleidet, weil sie zuvor partout ihre Pullis anbehalten wollten. Hüpften um mich herum. Zogen zufrieden ihre Schuhe an – selber! Ich sah sie an und fand sie einzeln und alle zusammen einfach wunder wunder schön.
Das Glück floss und mit sich nahm es alles, was die Nacht zuvor und den Tag danach mit sich gebracht hatten.
Ich war stolz. Unglaublich erfüllt von diesen zauberhaften Wesen. Mit dieser enormen Schönheit. Mit dieser wunderschönen Kindlichkeit. «Meine», dachte ich, «meine Liebsten. Meine Allerliebsten!»
Dieses Leben in Extremen macht mich fertig.
Von totalem Fertigsein zu höchsten Glücksmomenten in einem Wimpernschlag.
Ich kann das nicht.
Ich bin nicht für ein Leben mit Kindern gemacht. Nicht für ein Leben, das unkontrolliert mit meinen Gefühlen Achterbahn fährt und macht, was es will. Menschen, die machen, was sie wollen. Und ich als Verantwortliche muss diese menschliche Flipperkugeln irgendwie in den Griff kriegen. Schaffe es nicht. Flippe aus. Und dann flippern sie einmal an mein Herzchen und hupps, bin ich der glücklichste und erfüllteste Mensch auf Erden.
Ich ertrage das nicht.
Ich will meine Emotionen gerne in einem kontrollierbaren Rahmen halten. Ein entspanntes Leben. Ohne zu viel Emo-Stress.
Geht aber nicht.
Jeden Tag wird mir vor Augen geführt, dass ich nicht so bin, wie ich gerne wäre. Meine Selbstbeherrschung in Extrembedingungen nicht gross genug ist und meine Liebe nicht genügt, um respekt- und liebevollen Umgang umfassend zu gewährleisten.
Nichts desto trotz ist das alles, was ich habe. Meine Kraft, in diesen Extrembedingungen alles zu geben, um nicht vollständig durch zu drehen.
Es kostet mich alles.
Und ich tue es, weil ich keine grosse Wahl habe.
Die einzige Wahl, die ich aktuell habe ist, wie ich in diesen Extrembedingungen leben möchte.
Ich persönlich habe mich dafür entschieden, meine Kinder so gut wie möglich zu ertragen. Mit ertragen meine ich, sie durchzutragen. Durch all ihre Seelenzustände. Meinen Kindern eine möglichst liebevolle und respektvolle Mutter zu sein. In ihren Stürmen ruhig zu bleiben, auch wenn es in mir brodelt. Ihnen ein Gegenüber zu sein, bei dem sie sein dürfen, wie sie sind – und nicht wie sie sollten. Ihnen sachte zu helfen, ihren Weg zu sich selber zu finden. Dort anzukommen und zu bleiben.
Hat nicht nur den Master in Psychologie. Sondern ist auch Master im Desaster, was ihr als Aufsichtsperson von vier Kindern sehr gelegen kommt. War mal Journalistin in Zürich, jetzt ist sie freischaffende Mutter in Bern.