Chaya – Mama und alkoholkrank

Trinken während der Schwangerschaft? Sturzbetrunken allein daheim mit einem schreienden Baby? Wie kann man nur?, denkt man. Bis man Chaya* zuhört, die das alles erlebt hat. Und mitfühlt mit ihrer Geschichte, ihrem Kampf, ihrer Zerrissenheit, ihrem Scheitern und ihren Erfolgen als alkoholkranke Mutter.
*Name geändert

Wenn mir jemand die Wahl gelassen hätte zwischen einer Flasche Rosé und einer Reise auf die Malediven. Ich hätte den Rosé genommen. Ohne zu zögern. Aber wenn du mich jetzt fragst, was ich getan hätte, wenn ich zwischen der Flasche und meinem Sohn hätte wählen müssen. Ganz ehrlich: Das ist eine verdammt beschissene Frage.

Ich hätte mich für meinen Sohn entschieden. Aber es hätte mir echt weh getan um die Flasche Rosé.

Also zu meiner Vorgeschichte: Ich war noch ein kleines Kind, als ich von meinen Eltern adoptiert wurde. Zusammen mit meinem kleinen Bruder. Meinem letzten Blutsverwandten. Wir waren unzertrennlich. Ein kleine Hürde für meine Eltern, die ursprünglich nicht zwei Kinder adoptieren wollten. Aber es gab uns eben nur im Doppelpack – mich und meinen kleinen Fettsack.

Er war immer meine Familie. Mein Bruder. Einfach mein Buddy. Und dann ist er mit nur 20 Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen.

Von da an, musste ich trinken, um nicht an ihn zu denken. Um das Ganze irgendwie zu überleben.

Und ich habe immer getrunken. Wirklich immer. Auf der Arbeit, in den Pausen. Und nach Feierabend sowieso. Trotzdem war ich mir sicher, dass ich nicht alkoholabhängig werden würde. Ich dachte so etwas passiert mir nicht. Die Angst schlich sich erst ein, als ich merkte, dass ich die Kontrolle verloren hatte. Als ich nach der Arbeit zu mir sagte: ‘Okay Chaya, heute Abend kaufst du kein Alkohol.

Als es mich schliesslich nach jedem Feierabend in den Supermarkt zog, wusste ich: «Scheisse. Das ist kein Spiel mehr.» Weisst du, ich konnte nicht anders. Zwei Monate lang habe ich immer wieder versucht die Finger davon zu lassen. Aber es war längst zu spät. Ich konnte nicht mehr zurück.

Mir wurde gekündigt. Langsam aber sicher brach alles auseinander. Weil ich oft nicht wusste wohin, schlief ich bei Freunden. Schlimmen Freunden. In einer Wohnung, die übersät war mit Blutresten und verbrauchten Spritzen. Sogar in einem Puff habe ich übernachtet. Auf einem vibrierenden Bett. Verdammt pervers irgendwie.

In dieser Zeit habe ich meinen damaligen Freund kennengelernt. Ich weiss, ich war ein Wrack. Aber der hat mich gut gefunden. Warum auch immer. Jedenfalls wurde es schnell ernst und wir sind zusammen gezogen. Wir haben auch zusammen gesoffen und mit verschiedenen Drogen experimentiert, die ich bis dahin nicht kannte. Bloss konnte er immer wieder die Finger von dem Zeug lassen. Ich nicht.

Es war einfach immer dieses Gefühl, das mich so gefesselt hat. Ohne dieses Rauschgefühl, wollte ich nicht leben.

Zwei Jahre bevor mein Sohn auf die Welt kam, haben wir angefangen über ein gemeinsames Kind zu reden. Wir waren bereits fünf Jahre zusammen zu dieser Zeit. Ich nahm mir vor die Pille abzusetzen – und die Drogen und den Alkohol natürlich auch. Wir verhüteten mit Kondom mit der festen Absicht unser Leben in den Griff zu bekommen.

Aber wer denkt schon im Rausch daran ein Kondom zu benutzen?

Als mein Frauenarzt mir sagte, dass ich schwanger bin, habe ich mich gefreut – selbstverständlich.  Aber ich habe mir auch am gleichen Tag noch ein Bier gekauft. Und am nächsten Tag. Und am übernächsten Tag. Ich weiss, was du jetzt denkst. Und ich wusste selbst immer: Scheisse, ich schade meinem Kind. Ich wusste, wie kritisch die ersten drei Monate in der Schwangerschaft sind. Klar, habe ich das gewusst. Aber ich habe mich so machtlos gefühlt.

Ich glaube man verdrängt das irgendwie. Und es gab auch niemanden sonst, der davon wusste. Nicht wirklich. Selbst mein Freund hat es nicht gemerkt. Oder nicht merken wollen. Ich habe es einfach heimlich gemacht.

Ich habe mich ja auch nicht ins Koma getrunken, sondern immer schön einen Spiegel aufrecht gehalten. Immer so ein leichter Düdeldü-Zustand, weisst du wie ich meine? Von Aussen hast du es nicht gemerkt – es sei denn du hast es gerochen. Aber wenn ich eine Flasche Rosé intus hatte, hat mir man das nicht angemerkt. Ich habe eine Flasche Rosé getrunken, ging mit meinem Freund Mittagessen und dann: Tschüss und weitermachen.

Erst als es auf die Geburt zuging, stieg Panik in mir auf: Ist alles dran? Ist es behindert?

Jedes Mal, wenn ich ihn nicht mehr gespürt habe, hatte ich Angst, habe geklopft und gefragt: bist du noch da?

Aber er war noch da. Und er kam per Kaiserschnitt zur Welt. Alles war dran. Arme, Beine, alles. Sein Gehirn – es war alles in Ordnung.

Wenn ich heute daran denke. Wenn ich heute zurückschaue und mir überlege: Ich trinke und mache mein Kind kaputt und andere sind so vorsichtig und bringen trotzdem ein krankes Kind zur Welt. Ganz ehrlich, dann habe ich ein schlechtes Gewissen. Und ich frage mich: Habe ich das verdient?

Nein, ich finde ich habe dieses Glück nicht verdient.

Ich bin wirklich kein Glückskind. Ich habe das Glück nicht auf meiner Seite. Und wenn jetzt wegen  der Trinkerei das Kind krank gewesen wäre. Stell dir vor. Mir hätten alle die Schuld gegeben. Meine Familie, mein Freund. Und ich weiss selbst, es wäre meine Schuld gewesen. Keine Frage.

Die ersten Tage mit dem Kleinen waren so schön. Ich weiss – nein – ich denke, dass ich eine gute Mama war. Und irgendwann schlich sich alles ein. Der Schlafmangel, das Alleinsein. Du weisst vielleicht wie das ist: Da hast du plötzlich ein Kind. Du sollst dich freuen. Juhu. Aber ja. Du weisst wie es ist, oder? Es war einfach so, dass der Kleine mir einfach nicht genug war. So hart es tönt. Irgendwann bin ich wohl in diese – wie heisst das Ding – postnatale Depression gerutscht. Ich habe mich so leer gefühlt. Ich konnte mein Kind anschauen und dachte nur: Ja, sicher ist es herzig. Und jetzt?

seimi-klein-2Diesmal hatte ich eine Wodka-Phase, damit man es nicht riecht. Aber Wodka ist halt schlimm. Nein, das ist verdammt schlimm. Ich war total zugedröhnt, während der Kleine neben mir lag und weinte. So Zeug ist passiert. Es wurde einfach gefährlich für den Kleinen.

Er war ein paar Monate alt, als ich mit ihm in eine Klinik ging. Es ist schwierig zuzugeben, als Mutter alkoholkrank zu sein. Da kommen Behörden ins Spiel und weiss der Kuckuck.
Darum habe ich mich wegen Depressionen behandeln lassen. Sie wussten zwar, dass ich trinke – aber sie haben der Depression die Schuld gegeben.

Um ehrlich zu sein habe ich selbst immer nur der Depression oder etwas anderem die Schuld gegeben.

Ich konnte mir nicht eingestehen, dass ich Alkoholikerin bin.

Ich finde das ist ein so schlimmes Wort. Alkoholiker. Mutter und alkoholkrank – da bist du ganz unten. Wenn du jemandem sagst, du bist depressiv oder du hast Essstörungen – das ist okay. Aber sag mal zu jemandem, du bist ein Alkoholiker oder ein Drögeler – tiefer kannst du gar nicht fallen.

Kann eine gute Mutter alkoholkrank sein? Eine beschissene Frage irgendwie. Die Ärzte wussten, dass ich ein gutes Mami bin, wenn ich nicht getrunken habe. Aber ich war mir selbst nicht mehr so sicher. Klar, jede Mutter zweifelt mal an sich. Aber mir ist echt alles über den Kopf gewachsen. Ich wollte nur noch weg. Und dann bin ich einmal an Heiligabend einfach verschwunden. Es war sein zweites Weihnachten – Gott sei Dank wird er sich später nicht mehr daran erinnern. Ich bin morgens aufgestanden, gegangen und ging saufen. Ab da passierte es öfter, dass ich mich einfach davon schlich. Der Tiefpunkt war, als ich drei Tage komplett untergetaucht bin. Drei Tage lang war ich am Speed rupfen, am Arsch. Höchst suizidal.

Ich habe die ganze Zeit an mein Kind gedacht. Es hat mich fast verrissen.

Weisst du wie das ist wenn man keine Kraft hat? Wenn Drogen und Alkohol dich zurückhalten? Ich war am Boden. Als ich nach diesen drei Tagen heimkam, war mein Freund so glücklich, dass mir nichts passiert ist. Einmal hat er zu mir gesagt: ‘Das hätte mich so fertig gemacht, wenn ich meinem Sohn hätte erklären müssen, du bist irgendwie unter den Zug geraten oder so.’ Das hat so weh getan.

Es hat so weh getan sich eingestehen zu müssen, wie schlimm das war. Ich war so egoistisch. Manchmal denke ich gar nicht daran, dass sich alle um mich herum Sorgen machen. Wenn ich total besoffen war, ist der Kleine oft mit seinem Papa nach draussen. Kam zurück und hat mich schlafend auf dem Bett gefunden und mir über die Wange gestreichelt.

Irgendwann konnte und wollte mein Freund das alles nicht mehr mitmachen. Ich verstehe das auch. Er hat den Kleinen beschützen wollen. Und sich von mir getrennt.

Es ist okay. Weisst du, ich wollte immer, dass es meinem Sohn gut geht. Das war immer mein oberstes Gebot.

Ich denke oft: Was macht das alles mit ihm? Meine Sucht und meine Probleme? Natürlich denke ich das.

Wenn er mich besucht und weinen muss, wenn wir uns verabschieden, dann kannst du dir nicht vorstellen, wie weh das tut. Ich wünschte ich könnte ihm alles geben, was er sich wünscht. Das ganze Mama-Papa-Tralala. Eine Familie einfach. Er liebt das, wenn wir alle zusammen sind. Aber ich kann ihm das nicht geben. Manchmal steht er in seinem Zimmer bei Papa, mit seinem Stofftier in der Hand, schaut raus und schreit nach mir. Solche Sachen sind zu viel für mich. Und wenn er dann aggressiv wird oder so etwas, dann denke ich immer: Das ist so, weil ihn das alles beschäftigt. Aber ich darf nicht zu sehr darüber nachdenken. Die Schuldgefühle würden mich fertig machen.

Jetzt wohne ich in einem betreuten Wohnheim. Ohne den Kleinen. Ich weiss schon, dass manche sich fragen, ob mir der Kleine nicht wichtig genug ist und ob ich ihn nicht vermisse. Natürlich vermisse ich ihn. Aber ich mache das alles ja für ihn. Oder auch für ihn. Die ganze Therapie und den Scheiss. Er weiss, warum ich woanders wohne. Bei Menschen, die mich betreuen. Er weiss, Mama hat Sachen getrunken, die gar nicht gut sind für sie. Und er weiss, dass ich hier bin, damit mir geholfen wird und es mir wieder besser geht.

Was mich aber tröstet ist, dass ich das erste Mal in meinem Leben weiss, warum ich da bin. Für meinen Sohn. Und für ihn bin ich gerne da. Mittlerweile auch für mich selbst. Es war schwer zu kämpfen, weil ich einfach nie für mich selbst kämpfen wollte.

Wenn man nur andere, aber nie für sich selbst kämpfen will, reicht die Kraft nicht. Selbst wenn es um das eigene Kind geht.

Es gab Zeiten, da hatte ich den Kleinen bei mir und war nur noch froh, wenn ich ihn wieder von der Backe hatte. Ich schätze, es hat mich so fertig gemacht, dass ich nicht die perfekte Mutter bin, die mit ihren Kindern bastelt und ein Bilderbuch-Leben führt. Jetzt ist es halt wie es ist und ich mache das beste daraus. Das tönt nicht nach Märchen. Ich weiss. Für uns ist es halt das Schönste, dass ich seit bald zwei Jahren trocken bin und dass wir die wenige Zeit, die wir haben, zusammen geniessen können.

Ich glaube richtig gesund werde ich nie. Einen Rückfall kann es immer geben. Aber mir ist bewusst: Ich könnte das alles nicht mehr.

Ein zweites Mal das durchzumachen, was ich durchgemacht habe, das würde ich nicht schaffen.

Ich habe immer vor Augen, wie es war. Das hat so viel Kraft gekostet. Ich lerne einfach wie es ist ein Leben ohne Alkohol. Ich muss mir immer sagen: ‘Chaya, du darfst alles machen. Alles. Nur nicht trinken.

Suchst du Hilfe, weil du selber betroffen bist oder Angehörige mit erhöhtem Alkoholkonsum hast?

Dann melde dich doch bei der Fachstelle Blaues Kreuz Schweiz.

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