Meine Mutter ist überängstlich

Dieser Text ist Teil der Serie über Ängste und Sorgen. Wir haben den Namen der Autorin weggelassen zum Schutz der beteiligten Familienmitglieder.

Meine Mutter war über 40 Jahre alt, als sie mich gebar. Damals war das ganz schön alt. Sie galt wegen ihres Alters als Hochrisikoschwangere und die Ärzte machten ihr nicht viel Mut:

«Ihr Kind wird mit grosser Wahrscheinlichkeit behindert sein.»
Ich bin es nicht – kam kerngesund zur Welt.

Trotzdem machte sich meine Mutter Sorgen um mich. Und dies immerzu. Bis heute. Vielleicht hat es mit der Angstmacherei der Ärzte während der Schwangerschaft zu tun – vielleicht auch mit dem Fakt, dass man mit vierzig mehr Gefahren sieht, als noch mit zwanzig. Gut möglich, dass es auch einfach ein Stück weit zu ihrem Charakter gehört: die Vorsicht, das «Sich-Sorgen», die Angst.

Ihre Sorge galt nicht nur mir, sondern auch meinen Geschwistern. Und doch war es bei mir irgendwie anders, intensiver. Vielleicht, weil ich die Jüngste, das Nesthäkchen war?

«Ou, aber pass’ gut auf!» Diesen Satz hörte ich in meiner Kindheit andauernd.

Wenn ich mit meinen älteren Geschwistern und ihren Gspändli draussen spielte, wenn ich im Garten auf Bäume zu klettern versuchte (und es dann doch nicht schaffte, weil ich es mir selber auch nicht zutraute), wenn ich mich mit Freundinnen zum Spielen verabredete. Immerzu sollte ich aufpassen, dass mir nichts passiert.

Und tat es auch. Ich passte auf.

Ich war ein vorsichtiges und scheues Kind.

Und wenn ich zurückdenke, dann fällt mir vor allem ein Gefühl ein, das mich begleitete: Angst.

Ich hatte ständig vor irgendetwas Angst. Nicht nur vor der Dunkelheit in der Nacht – nein, die Angst lag manchmal wie eine dunkle Wolke über mir. Und ich konnte nicht einmal benennen, wovor ich mich fürchtete.

Ob diese Angst davon kam, dass ich sie bei meiner Mutter häufig sah?
Auch später begleiteten mich Vorsicht und Zurückhaltung. Ich war ein angepasster Teenager, eine vernünftige junge Frau. Stets darum bemüht, meine Mutter nicht zu beunruhigen, ihr nicht einen Grund zu geben, sich zu sorgen.

Ich denke, das war mir als Kind nicht wirklich bewusst. Vieles sah ich erst mit dem Blick einer (jungen) Erwachsenen – und dann fing es auch erst an, mich zu nerven.

Wenn ich in die Ferien verreiste oder auch nur in ein verlängertes Wochenende: Wenn ich am Zielort ankam, gehörte ein «bin gut angekommen»-SMS an meine Mutter einfach dazu. Klar hätte ich es auch einfach lassen können. Aber das konnte ich eben doch nicht. Ich wusste: Wenn sie nicht ein Lebenszeichen von mir bekam, machte sie das ganz krank vor Sorge.

Manchmal war mir das dann auch peinlich – welche 20-Jährige schreibt ihrer Mutter aus den Ferien regelmässig SMS?! Also tat ich es möglichst so, dass niemand es merkte.

Ein weiser Mann pflegte einmal zu sagen: «Zwei Dinge sollten Kinder von ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel.»

Wurzeln gab meine Mutter uns definitiv. Und dafür bin ich ihr auch unendlich dankbar. Denn ihre Sorge um uns hatte durchaus einen positiven Aspekt: Sie zeigte sich auch sehr stark in FÜRsorge. Ich würde behaupten, meine Mutter ist einer der fürsorglichsten Menschen, die ich kenne. Sie war stets darum bemüht, dass es uns Kindern gut ging. Die Liebe, Wärme und Geborgenheit, mit der sie uns überschüttete, gab mir ein tiefes Gefühl von Sicherheit – mitten in all der Angst.

Ich wusste immerzu und weiss es bis heute: Meine Mutter ist immer für mich da – egal was kommt. Diese Gewissheit ist tief in mir verwurzelt.

Aber das mit den Flügeln, das war für meine Mutter unglaublich schwierig. Und doch – sie versuchte es immer wieder. Darüber staune ich im Rückblick. Denn trotz ihrer Angst und Sorge: Sie liess mich auch immer wieder gehen. Zwar mit sorgenvollem Blick und einem «Pass auf!». Aber immerhin. Ich durfte bei Freundinnen im Garten zelten, ins Sommerlager, mit den Geschwistern um die Häuser ziehen. Sie packte mich nicht in Watte, obwohl sie das wohl so gerne getan hätte.

Heute weiss ich, meine Mutter meinte es nicht böse. Es war nicht so, dass sie uns das Fliegen nicht gönnte – aber sie konnte die Angst um uns einfach nicht loslassen.

Seit ich Mutter bin, kann ich das besser verstehen. Auch ich kenne die Angst um meine Kinder. Mir fällt es nicht immer leicht, sie morgens ziehen zu lassen. Aber weil ich mir wünsche, dass sie sich mehr zutrauen, als ich es tat, bemühe ich mich darum, ihre Flügel zu stärken.

Ob es mir gelingt? Fragt meine Kinder in zwanzig Jahren.

Bild: Jenna Norman

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