Mein Kind ist anders: Hörbehindert

Dieser Text ist Teil einer Serie über Mütter, die mit ihren Kindern nicht dieselben Wege gehen können wie Mütter von Kindern ohne Besonderheiten oder Einschränkungen. Wir haben, um die Kinder zu schützen, die Namen der Betroffenen weggelassen. Im folgenden Text schreibt eine Mama über ihr inzwischen erwachsenes Kind mit Hörbehinderung und ADHS. Das noch heute trotz mehrheitlich eigenständigem Leben viel Aufmerksamkeit, Unterstützung und Begleitung einfordert.

Ja, mein Kind ist anders. Man sieht es zwar nicht auf Anhieb, diese eher versteckte Behinderung. Und das wird immer irgendwie ein Schmerz bleiben, auch wenn man meint, sich damit abgefunden zu haben. Denn wo etwas nicht der Norm entspricht, da fällt man auf, fällt aus dem Rahmen, eckt an, stösst auf Unverständnis und hat oft unerwartete Schwierigkeiten zu bewältigen. Es heisst, sich zusätzlichen Herausforderungen stellen zu müssen als «nur» denjenigen, die man allgemein mit Kindern so schon hat.

Und – sie hören nicht immer auf, wenn das Kind erwachsen geworden ist.

Mehr dazu später.

Mein Kind kam Ende der neunziger Jahre nach einer normalen Schwangerschaft mit einer sehr schweren Hörbehinderung zur Welt. Das stand nach einem Jahr fest. Später diagnostizierte man noch ein schweres ADHS und weitere diffuse Probleme. Diese Kombination, das Zusammenwirken von Hörproblemen und ADHS, ist medizinisch wenig erforscht und es gibt kaum Literatur dazu, was es mit Betroffenen macht, die gleich beides in die Wiege gelegt bekommen haben.

Rückblickend könnte ich mehrere Bücher füllen. Über das Versagen von Fachleuten. Über zugefügte Verletzungen, über Enttäuschungen und absolut schwierige Situationen, in denen man alleine war.

Auch über eigene Patzer könnte ich jammern, über die unermessliche Kraft, die es gebraucht hat, die Ausdauer, den Aufwand, die Opfer, den Verzicht. Dabei sind wir als Familie, als Paar, irgendwie auf der Strecke geblieben. Die jüngeren Geschwister, ich selbst.

Alles drehte sich immer nur um das Kind mit den besonderen Bedürfnissen, um das Kind, das nach der Geburt weder Mamas Stimme noch Vogelgezwitscher hörte. Und das man ohne hörende Ohren kaum oder nur unter erschwerten Bedingungen erziehen und unterrichten konnte.

Das Kind, das ohne Hörgeräte nichts hört und mit Hörgeräten doch nicht alles versteht.

Es ist das Kind, dem man alles extra erklären muss. Stets muss man daran denken, dass es nicht einfach so die üblichen Infos mitbekommt, die wir Hörenden nebenbei locker automatisch aufnehmen. Man kann nicht einfach etwas in den Raum hineinsagen, wie das sonst üblich ist. Denn das hörbehinderte Kind wird es nicht mitbekommen und die Information als einziger Beteiligter nicht haben.

Man muss trotz modernster Technik, wie einem Cochlea-Implantat oder einem mit dem Smartphone gesteuerten Bluetooth-Hörgerät, immer noch darauf achten, dass man beim Sprechen die ganze Aufmerksamkeit des Hörbeeinträchtigten hat, dass man deutlich spricht, mit zugewandtem Gesicht wegen dem Ablesen von den Lippen.

Man muss beachten, dass man alles genau erklärt, für gute Beleuchtung sorgt und nicht schreit.

Man muss daran denken, dass Ablesen von den Lippen eine mentale Höchstleistung erbringen heisst und demzufolge schneller Ermüdungserscheinungen auftreten. Denn es gibt Worte, die haben das gleiche Lippenbild, und dann muss bereits ein kleines hörbehindertes Kind herausfinden, ob nun «Sunne» oder «Zunge» gemeint ist. Über das Gehör kann das mittels Hörgerät nicht gut analysiert werden, da die Zischlaute «S» und «Z» trotz Technik je nach Art der Hörbehinderung gleich klingen. Das Kind muss also lernen, in Sekundenschnelle zu entscheiden, welcher Begriff nun zum Thema passt, über das man sich gerade unterhält. Das gelingt nicht immer.

Verhörer – lustige, traurige, dramatische – sind an der Tagesordnung.
Das bedeutet für alle Beteiligten ein Mehraufwand an Energie und Geduld.

Es dreht sich also fast alles um dieses Kind, dessen Defizite alle bewusst oder unbewusst versuchen auszufüllen, obwohl das schlussendlich niemals möglich sein wird und man das eigentlich auch nicht mehr immer müsste.

Man ist nun aber über Jahre hinweg so konditioniert worden und kann irgendwie gar nicht mehr anders.

Das macht es schwierig.

Weil das Kind sich zwar abgelöst hat, aber man als Eltern immer noch Anlaufstelle bleibt. Nach wie vor ist es nicht einfach, bei Bedarf einen Termin bei einem Therapeuten zu kriegen. Die Fachstellen sind überlastet.

Und wer ist noch da, wenn nicht wir?

Auch wenn mein Kind jetzt selber Familie hat, müssen wir Eltern manchmal helfen zu entlasten. Der/Die Partner/-in des erwachsenen Kindes muss erst in die Situation reinwachsen, sich zurechtfinden. Dann sind Grosskinder da. Die hören – und mein Kind hört sie nicht. Das belastet. Das führt zu unschönen Situationen. Und manchmal braucht es uns als ganze Kernfamilie, um die Familie dieses speziellen Kindes zu entlasten.

Von aussen kann man womöglich gar nicht nachvollziehen, was das mit sich bringt. Und warum man das Kind nicht einfach sich selber überlässt.

Aber mein Kind hat sich durchgekämpft. Durch eine Kindheit mit vielen Hindernissen. Durch Lehrstellensuche ohne Zusagen. Es kämpft um Selbstständigkeit. Um Selbstvertrauen. Um mitzuhalten mit den Anforderungen der Gesellschaft, den Mitmenschen. Und immer wieder um die Zusage und den Glauben, trotz Defiziten zu genügen.

Mir ist bewusst, dass wir Eltern nicht ewig leben. Eines Tages muss es ganz ohne uns zurechtkommen. Beide Seiten müssen das irgendwann einfach akzeptieren.

Manchmal wächst mir das über den Kopf. Ich habe das Gefühl, noch gar nicht gelebt zu haben. Ich bin nie richtig entspannt, kann nie richtig abschalten. Das hängt sicher auch damit zusammen, dass ich sehr fürsorglich bin.

Doch die Kräfte lassen nach und es braucht eine Art zusätzlichen Ablösungsprozess. Das Kind ist sich auch gewohnt, jederzeit auf unsere Unterstützung zählen zu können. Ich bin daran, ihm stets zu sagen, es selber zu versuchen. Sich selber Lösungen zu überlegen. Und erst, wenn das nicht mehr geht, uns um Hilfe zu bitten.

Gleichzeitig versuche ich, eine gesunde Distanz zu halten. Was nicht immer einfach ist. Man muss sich Inseln suchen, in denen man wieder auftanken kann. Ab und zu ein paar Tage alleine verreisen kann dann Wunder wirken, um neue Kraft zu schöpfen.

Alle Involvierten, vom Arzt bis zum betroffenen Kind, wir müssen uns damit abfinden, dass in unserem Fall eine Art Normalzustand einfach niemals möglich sein wird.

Das klingt jetzt furchtbar negativ.

Alles hat aber auch immer seine guten Seiten.
Wie ein verregneter Sommer, der für ein unglaubliches Grün sorgt und die Schnecken feiern lässt.

Durch diese enorme Belastung haben wir als Familie viele Fähigkeiten erwerben können, die extrem nützlich sind.

Mittlerweile kann ich sehr gut vernetzt handeln, denken, organisieren, weil man das mit so einem Kind können muss. Augen und Ohren immer offen, voll auf Empfang, egal, was man tut. Daher kann ich hochkonzentriert auf der emsigen A1 Auto fahren und gleichzeitig mit meiner betagten Mutter telefonieren, die mir eine Einkaufsliste diktiert, so dass der Schwager, der mein Beifahrer ist, vor Staunen fast aus dem Auto fällt.

Ich kann mich gut mit Behörden herumschlagen und dem dazugehörigen Papierkram. Ich habe inzwischen ein medizinisches Wissen, das manche Leute vermuten lässt, ich sei Krankenschwester. Schon vor dem Kinderarzt wusste ich, dass eines meiner Kinder Scharlach hatte. Ich kann in einer Gruppe von Menschen in Kürze die ADHS-Patienten herausfiltern und sobald mir jemand begegnet, der ein Cochlea oder Hörgeräte trägt, nehme ich darauf Rücksicht.

Ich habe mittlerweile rein gar keine Berührungsängste mehr gegenüber Menschen, die anders sind als der Durchschnitt.

Mit meinem Kind war ich in Kliniken, wo ich nicht mehr feststellen konnte, wer nun der Arzt und wer der Patient war, weil alle Anwesenden irgendwie anders waren. Das war zwar eine verwirrende Erfahrung, aber auch eine lustige. Ich bin selbstsicherer geworden und kann mich jetzt viel besser wehren, wenn mir jemand ans Bein pinkelt. Ich schäme mich meiner Kommunikationsbegabung nicht mehr, denn sie hat meinem hörbehinderten Kind einen sensationellen Wortschatz vermittelt, den andere Betroffene so nicht haben.

Und – ich habe immer etwas zu erzählen, weil bei uns mehr passiert.

Mein Leben ist niemals langweilig oder auch nur ansatzweise einsam. Inzwischen weiss ich, wer die wirklichen Freunde unserer Familie sind. Die können nämlich damit umgehen, dass ich nicht immer Raum für sie habe, und sie halten auch in länger dauernden, schwierigen Zeiten zu uns. Dann, wenn wir gerade auf Sparflamme sind und nicht wissen, wo uns der Kopf steht.

Ich bin stolz auf mich, es überlebt und geschafft zu haben, bis hierhergekommen zu sein. Ich bin stolz auf meine wahnsinnige Leistung, drei Kinder unter schwierigen Bedingungen grösstenteils gefühlt alleine grossgezogen zu haben. Und stolz auf die übrigen Kinder, die mir auch mental eine grosse Stütze sind. Auch sie haben gelernt, gut mit der Situation umzugehen; sie sind sozial, haben viel Empathie für andere.

Ich habe gelernt, nichts zu erwarten und mehr im Moment zu leben. Denn wenn man sich über etwas riesig freut, kommt oft gleich wieder ein Dämpfer. Daraus resultierend bin ich für jeden schönen Moment wahnsinnig dankbar und kann ihn in vollen Zügen geniessen.

Es sind Augenblicke vollster Schönheit und Freude, die doch in jedem menschlichen Leben, sei es noch so anstrengend, so wunderbar häufig vorhanden sind. Wenn man sie denn sehen will.

So wie letzthin beim Frühstück.

Das niedliche, allerliebste dreijährige Kleinkind meines hörbehinderten erwachsenen Kindes ass mit uns, seinen Grosseltern, genussvoll Haferbrei mit Zimt und Zucker. Es schmatzte genüsslich und laut. Es leckte sich bedächtig die zuckrigen Lippen ab. Dann schaute es mich zärtlich an. Es legte sein weiches, süsses Patschhändchen auf meinen Arm und tätschelte ihn. Dann sagte es lieb und wohlerzogen: «Danke, fein gekocht!»

Titelbild: Sina Bieri

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