Dieser Text ist Teil einer Serie über Mütter, die mit ihren Kindern andere Wege finden müssen als Mütter mit ‘normalen’ Kindern. Wir haben, um die Kinder zu schützen, bewusst bei einigen Texten die Namen der Autorinnen weggelassen. Diese Mama erzählt von ihrem Kind, das eigentlich gar nicht anders war – aber plötzlich von der ganzen Klasse anders behandelt, gemobbt, wurde.
Mein Kind ist fröhlich. Geht gerne zur Schule. Hat Freunde und trifft sich oft mit ihnen. Mein Kind ist aber auch angepasst. Möchte dazugehören. Trägt Unsicherheiten mit sich herum. Sucht seinen Platz.
Ein ganz normales Kind eben. Oder?
In der Mittelstufe dann plötzlich die Veränderung. Das Kind erzählt, es herrsche schlechte Stimmung in der Klasse. Alle seien gegeneinander. Es gebe Anführer, die andere fertig machen.
Es war, als wären die unbeschwert kindlichen Jahre auf einen Schlag vorbei.
Auf einmal gab es die «Coolen». Und die, die nicht mehr dazugehörten.
Und mein Kind? Von scheinbar einem Tag auf den anderen gehörte es nicht mehr dazu.
Ein Auslöser war nicht erkennbar. Aber fortan verbrachte es Pause um Pause alleine auf dem Pausenhof. Es schien mir unbeholfen und verunsichert.
Kinder können grausam sein. Mein Kind wurde nicht einfach nur links liegen gelassen. Es wurde ihm tagtäglich unter die Nase gerieben, dass es nicht dazugehört. Andere Kinder liefen weg, wenn mein Kind Anschluss suchte. Mädchen kicherten und flüsterten. Im Turnen wurde es zuletzt in die Gruppe gewählt. Mal für Mal für Mal. Stifte verschwanden aus dem Etui und eine Bastelarbeit, auf die mein Kind stolz war, wurde aus dem Fenster geschmissen und war danach kaputt. Vieles lief nicht offensichtlich, sondern sehr subtil ab.
Mein Kind hinterfragt das Verhalten anderer stark. Analysiert. Durchschaut. Und kommt, wie ich wahrnehme, zum Schluss, dass es nicht bereit ist, sich selber aufzugeben, nur um dazuzugehören. Mein Kind ist lieber zu Hause, als auf dem Pausenplatz rumzuhängen und TikTok zu schauen.
Meinem Kind Eigenständigkeit in seinem Denken und Handeln beizubringen, war mir schon immer wichtig. Dass mein Kind weiss, dass Cool-Sein nicht bedeutet, dass man alles mitmacht. Sondern dass es von Charakter zeugt, wenn man zu seinen Werten steht.
Ich bin so unglaublich stolz auf mein Kind, dass es den Mut hat, für seine Überzeugungen einzustehen. Nicht einfach mitläuft und sich dabei verleugnet.
Gleichzeitig blutet mein Mamaherz beim Gedanken, dass genau diese Prägung mein Kind kurzfristig ins Elend gestürzt hat. Dass ich mitschuldig bin an seiner Misere.
Als Mama hinterfragte ich stark, was der Anteil meines Kindes an der ganzen Geschichte war. Ob es selbst etwas zur Besserung seiner Situation beitragen müsste. Ich gab Tipps wie «Du darfst dich in den Pausen einfach dazustellen» oder «Frag mal direkt nach, ob du was falsch gemacht hast, dass sie so reagieren.»
Natürlich drängte es mich, selber zum Hörer zu greifen und die Lehrperson oder die Mutter des vermeintlichen Drahtziehers anzurufen. Aber jedes Mal, wenn ich dem Kind gegenüber den Miteinbezug von Lehr- oder Fachpersonen vorschlug, blickte es mich panisch an. Es sagte: «Kommt in der Schule raus, wie sehr ich leide, bin ich noch angreifbarer. Verletzlicher.»
Wenn die Mobber erfahren, dass mein Kind ‘petzt’, wird es noch mehr fertig gemacht.
Alles Gut-Zureden nützte nichts. Während mehrerer Monate kam mein Kind mehrmals wöchentlich weinend von der Schule nach Hause. Schliesslich wollte es nicht mehr hingehen. Jeden Abend legte ich mich zu ihm ins Bett und hörte zu. Versuchte Mut zu machen. War da. Schwieg. Trocknete Tränen, weinte selber unzählige Tränen, strich dem Kind übers Haar. Und litt vor allem mit.
Mit dem Latein am Ende googelte ich nach «Mobbing». «Was tun, bei…». Die Vorschläge und Fachmeinungen sind sich einig: Lehrer informieren, Eltern und Täter konfrontieren, Schulsozialarbeiter involvieren, dem Kind zur Seite stehen. Da sein.
In meinem Herzen wünschte ich mir, dass es so einfach wäre. Wie gerne hätte ich die Hilfe von Fachpersonal in Anspruch genommen. Wie gerne wäre ich auf den Pausenhof marschiert und hätte die Täter konfrontiert.
Tief in mir drin ahnte ich: Das Kind hat Recht. Wenn es zu den Lehrpersonen rennt, dann ist es noch mehr unten durch.
Wir sind in der Situation gefangen. Müssen das alleine packen. Aushalten. Stärken. Und hoffen, dass es bald vorüber ist.
So weh es mir tat, wusste ich doch: Wenn ich jetzt, hinter dem Rücken meines Kindes die Zügel in die Hand nehme, Lehrpersonen informiere oder sonst wen involviere, dann geschieht in der Beziehung von mir und meinem Kind ein riesiger Vertrauensbruch. Und das wollte ich unter keinen Umständen riskieren. Auch wenn ich mir bewusst war, dass die Lösung tatsächlich dort liegen würde. Aber ich musste mein Kind den Zeitpunkt bestimmen lassen.
Dass sich mein Kind mir Tag für Tag anvertraute, wollte ich auf keinen Fall aufs Spiel setzen. Ich musste seine Meinung respektieren. Mir waren die Hände gebunden. Und wir standen in einer Sackgasse.
So wehr- und machtlos hatte ich mich selten gefühlt.
Hilfe kam dann von unerwarteter Seite.
In der Schule setzte mein Kind ein Pokerface auf. Kaum auf dem Heimweg, kamen die Tränen. Die Mutter eines Mitschülers sah die Tränen. Und reagierte. Rief mich unverzüglich an. Fragte, was los sei und ob ihr Kind einen Anteil an diesen Tränen trug. Ich werde ihr auf ewig dankbar sein. Ihr Kind (das selber nur am Rande involviert war) stand wenig später bei uns und entschuldigte sich. Das gab meinem Kind etwas Sicherheit zurück.
Noch lange war nicht alles wieder gut. Aber das war ein kleiner Schritt. Eine Person, die nun davon wusste. Die im Grunde auch darunter litt, aber selber auch in der Dynamik gefangen war. Fortan waren sie zu zweit. Mein Kind hatte wieder einen Anhaltspunkt in der Klasse. Und merkte, dass es nicht schlimm enden muss, wenn man darüber spricht und Verletzungen offenlegt.
Kurze Zeit darauf weinte mein Kind zuhause vor der Nachmittagsschule.
Am Vormittag war wieder etwas vorgefallen und das Kind wollte partout nicht zum Unterricht. Ich sagte ihm, es dürfe zu Hause bleiben, aber dann müsse ich die Lehrperson informieren weshalb. Das wollte mein Kind unter keinen Umständen. So lief es mit los, kam zu spät zur Schule und die Lehrperson sah offensichtlich, dass mein Kind geweint hatte. Sie nahm mein Kind zur Seite und es durfte sich endlich selber anvertrauen. Und dabei erleben, dass die Lehrperson da war. Handelte. Die Dynamiken bis anhin schlicht nicht mitbekommen hatte.
Auch der Lehrperson bin ich dankbar. Sie hat goldrichtig reagiert. Gespräche mit der gesamten Klasse gesucht, Schulsozialarbeiter involviert, ohne mein Kind dabei blosszustellen.
Wir sind mittlerweile aus dem Gröbsten raus. Mein Kind geht wieder gerne zur Schule und hat seinen festen Platz. Das ist ein Geschenk.
Gleichzeitig hat die Zeit Spuren hinterlassen, die mein Kind mittragen wird.
Im Rückblick hinterfrage ich oft, ob ich nicht doch proaktiver hätte eingreifen müssen.
Mein höchstes Gut war es stets, mein Kind nicht zu «verraten». Deshalb habe ich von Aktionen hinter seinem Rücken abgesehen. Ich hatte mir Adressen von Kinderpsychologen rausgesucht und mir eine Deadline gesetzt. Vielleicht hätte ich eher handeln sollen.
Was mich die Situation gelehrt hat, ist, dass es Eltern braucht, die hinschauen. Die da sind. Die sich Zeit nehmen. Die ein offenes Ohr für ihre Kinder haben. Und zwar nicht nur für die «Opfer», sondern auch für die «Täter». Ich möchte eine Mama sein, die genau hinschaut. Die zwischen den Zeilen liest. Und auch mal bei anderen nachfragt: «Ist mein Kind Täter?»
Der Raum für alles, was das Begleiten von Kindern beinhaltet: Liebevolles und Leichtes. Schweres und Schwieriges, Einblicke und Einsichten. Dieser Raum wird gestaltet von Nadine Chaignat. Gefüllt mit Podcast übers Muttersein, Menüs für Kinder, Humorvollem aus dem Mamaalltag.
Danke für diesen Einblick. Mir sind beim Lesen nur schon bei der Vorstellung, so etwas als Mutter aushalten zu müssen, die Tränen gekommen. Ich bin überzeugt, dass die Autorin absolut richtig gehandelt hat: Vertrauen und der unerschütterliche Glaube des Kindes, dass es als Person und mit seinen Bedürfnissen wahrgenommen wird, ist das wichtigste in der Beziehung. Ein Vertrauensbruch kann eventuell nie mehr gekittet werden.
Meine Kinder sind noch nicht in der Schule, aber ich habe von diesem Artikel ganz viel mitnehmen können, sollte mein Kind mal in einer solchen Situation sein. Danke dafür!