Über fünfzehn Jahre begleitet Christine Leicht Familien, die trauern. Der Tod – schon lange ist er in ihrem Leben präsent. Nimmt ihr Spielkameraden, Nachbarn, später Freundinnen und ihr Gottikind. Die gelernte Kleinkindererzieherin sah sich irgendwann nur noch mit zwei Möglichkeiten konfrontiert: Fürchtet sie ihn oder nimmt sie ihn als Teil des Lebens an? Sie hat sich für letzteres entschieden – und schaut heute dem Tod fast täglich ins Gesicht. Als Trauerbegleiterin für Familien in Bern berät sie betroffene Eltern im Umgang mit Kindern und Tod.
Es regnete in Strömen als sich Nadine Chaignat mit Christine Leicht in deren Wohnung traf. In einem Zimmer, gefüllt mit Dingen, die Kindern wie Erwachsenen einen Zugang zum Trauern ermöglichen. Kissen aus Emojis, Instrumente, die auf dem Rücken einer Person gespielt werden, Fischkarten, die Gefühle darstellen, bemalte Steine, Kerzen, einen Sandkasten.
Knapp drei Wochen waren seit der Beerdigung von Nadine’s Schwiegervater vergangen. Ein Ereignis, das viele Fragen aufgeworfen hat. Wie erklärt man Kindern, dass jemand tot ist? Darf man vor den Kindern weinen? Kinder in Trauer begleiten, wie macht man das? Und wie spricht man das Traurigsein an, wenn das Kind nicht darüber reden möchte?
Nadine Chaignat: Christine Leicht, wie wird man Trauerbegleiterin?
Christine Leicht: Es ist eine Herzensaufgabe. Seit meiner Kindheit begleitet mich das Sterben. Nie in meinem unmittelbaren Umfeld, aber in der nächsten Nachbarschaft und in der Schule. Als ich über zwanzig war, starb meine Freundin an Krebs. Mein Gotti-Meitschi mit halbjährig. Es ging weiter und weiter. Ich musste mich entscheiden. Statt Angst davor zu haben und mich zurück zu ziehen, habe ich begonnen mich damit intensiv auseinaner zu setzen.
Was hast du beim Beschäftigen mit dem Tod entdeckt?
Es tönt speziell, aber in all dem Traurigen, all dem Sterben, gab es auch viele Geschenke. Eine spezielle Form von Nähe und einem Blick, der sich weitet.
Wie meinst du das?
Die Nacht, in der mein Gottimeitschi zuhause im Wohnzimmer aufgebahrt war, haben ihre Mutter und ich noch ein letztes Mal bei ihr geschlafen. Das ist eine Nacht, die ich nie vergessen werde. Das war einerseits traurig, aber auch höchst kostbar. Das berührt mich in einer Tiefe wie vielleicht die Geburt meiner Kinder mich in einer Tiefe berührt hat.
Du leitest eine Waldkindertrauergruppe für Kinder. Wie kann man mit Kindern in einer Gruppe trauern?
In der Geborgenheit und Offenheit des Waldes ist erfahrungsgemäss viel mehr Gefühlsausdruck möglich als in einem geschlossenen Raum. Wir tauschen uns im Kreis aus. Darüber, dass ein Kind zum ersten Mal den Geburtstag ohne Papi feiert oder das erste Mal den Geburtstag vom Papi ohne Papi feiert. Oder den ersten Todestag, zum ersten Mal Weihnachten, was auch immer. Nach dem Austausch haben wir ein Thema, das wir bearbeiten. Danach gehen wir Holz sammeln, machen Feuer, kochen. Wir brauchen Feuer zum Leben, wir müssen essen, um weiter zu leben. Wir brauchen Wärme, einen Tee, damit es uns gut geht. Wir beziehen das Leibliche, das Leben, ganz fest ein als Ressource, damit den Kindern bewusst wird: Ich bin nicht hilflos ausgeliefert, es gibt immer was, was ich machen kann.
Wie schaut es denn aus, wenn du eine Familie besuchst?
Die Familien rufen mich an. Gerade eben hatte ich ein Gespräch mit einem Mann, dessen Frau heute Morgen an einem Hirntumor verstarb. Seine wichtigste Frage: Was mache ich mit meinem dreijährigen Kind?
Was rätst du in solchen Momenten?
Manchmal gehe ich zu den Familien nach Hause, manchmal reicht es, wenn ich telefonisch begleite. Ich erkläre ihnen, worauf sie achten sollten bei der Verabschiedung des Körpers, bei der Trauerfeier. So dass alles in einem kindsgerechten Rahmen stattfindet. Es gibt einige kleine, aber wichtige Details, an die man unbedingt denken muss. Wenn man die weiss, geht man schon viel sicherer dorthin.
Was sind das für Dinge?
Ein Kind sollte immer gut darauf vorbereitet sein, was als nächstes geschieht. Zudem ist es sehr wichtig, dass man Kinder möglichst in viele Handlungen mit einbezieht. Sie einlädt dazu, nicht zwingt. Die Trauerfeier so gestaltet, dass man nicht von einem dreijährigen Kind erwartet, dass es einfach still auf dem Bänkli sitzt. Sondern dass allen klar ist, dass man als Mutter möchte, dass die Kinder den Raum haben, Kinder sein zu dürfen. Nämlich möglichst rumrennen dürfen, auf dem Boden sitzen, mal die Photos anschauen, die vielleicht irgendwo im Raum stehen.
Gibt es sonst noch was für die Trauerfeier zu beachten?
Im Voraus organisieren, dass jedes einzelne Kind jemanden hat, der als sein Schutzschild dient. Wenn das Kind aus der Kirche gehen will, auf die Toilette muss, ihm alles zu viel wird, darf man als betroffener Elternteil sitzen bleiben und sich während der Abschiedfeier primär seiner Trauer hingeben. Das ist der eine Aspekt. Der andere, dass die Kinder aktiv geschützt werden vor den Trauernden, die unbewusst ihre Trauer über das Kind ausschütten wollen. Insbesondere früher haben immer alle aus lauter Mitleid den Kindern über den Kopf gestreichelt. Und mit dem über den Kopfstreicheln von Müllers und Meiers und wem auch immer haben sie ihre Trauer dem Kind abgeladen.
Was muss man beachten, wenn Kinder unmittelbar von einem Todesfall betroffen sind?
Für betroffene Kinder kann es wichtig sein, dass die Eltern und ihr Umfeld sie darin unterstützen, alltägliche Gewohnheiten wie Kindergarten, Schule, gemeinsame Mahlzeiten mit der Familie, übliche Schlafenszeiten, gewohnte Rituale möglichst beizubehalten oder diese bald nach der Trauerfeier wieder aufzunehmen.
Was heisst das für die betroffenen Eltern?
Die Zeitspanne vom Eintritt des Todes bis nach der Trauerfeier ist eine sehr aussergewöhnliche Zeit. Eltern müssen sich bewusst sein, dass sie eine Dreifachbelastung erleben. Erstens trauern sie selber um den verstorbenen Partner oder das Kind. Zweitens trauern sie für das Kind, dass es dies erleben muss. Drittens müssen sie ihr Kind auch noch in seiner Trauer begleiten können. Sie brauchen dabei unbedingt die direkte Unterstützung ihres Umfeldes oder eine Trauerbegleitung.
Deine Aufgabe beginnt also mit der Abdankung, dem Abschied nehmen?
Machmal auch dann, wenn ein Elternteil noch lebt. Ich gehe zum Beispiel mit dem Kind auf die Palliativabteilung, versuche, mit der Mutter oder dem Vater Erinnerungen zu schaffen. Die Verabschiedung zu gestalten. Das Kind auf die Verabschiedung vom toten Körper vorzubereiten. Da gibt es paar wirklich wichtige Sachen, über die man das Kind aufklären muss, damit es nicht erschrickt.
Worauf muss man ein Kind vorbereiten bei einem toten Körper?
Besonders wichtig ist das Kälteempfinden. Ich erkläre das oft mit einem Handschuh. Der Körper, das ist der Handschuh. Das, was den Menschen ausmacht, ist quasi in dem Körper drin. Die Hand im Handschuh. Dass hilft auch zu erklären, warum eine Kremation dem Verstorbenen nicht weh macht. Die Hülle hat kein Schmerzempfinden mehr. Ein Handschuh spürt nur etwas, wenn die Hand noch drin ist. Das muss ein Kind wissen.
Was erklärst du dann weiter?
Wenn jemand stirbt, sieht es zwar so aus, als ob der Mensch schläft. Aber der Unterschied zum Schlafen ist, dass das Herz nicht mehr schlägt. Das Herz, welches das Blut durch den Körper pumpt und macht, dass der Körper warm ist und wir uns bewegen können. Ich nutze dafür auch ein Stetoskop und oder wir legen die Hand auf die Brust. «Schau, mein Herz schlägt, deines schlägt – und du darfst bei der Mama auch spüren, wie das denn ist, wenn ihr Herz nicht mehr schlägt. Wenn der Körper kalt wird. Und sogar die Fingernägel oder Lippen blau werden, weil das Blut nicht mehr fliesst. Wenn ein Kind das weiss, ist es gut vorbereitet.
Muss man sich sonst noch auf etwas achten?
Dass wir uns bewusst sind, dass Kinder eine andere Perspektive haben. Uns auf ihre Augenhöhe begeben und den Verstorbenen aus ihrer Perspektive anschauen. Als Erwachsene sieht man den Verstorbenen von oben herab, das schafft eine gewisse Distanz. Kinder sind näher daran.
Sollen denn Kinder einen Verstorbenen sehen?
Wir TrauerbegleiterInnen finden es wichtig, dass das Kind sich vom Körper verabschieden kann. Es ist eine Realität, dass der Mensch, das Grosi, der Grossvater, anders aussieht, wenn er gestorben ist. Man sagt ja manchmal: «Ich möchte den Menschen so in Erinnerung behalten wie er war». Doch es ist ein Fakt, dass er tot ist. Das auch visuell nachvollziehen können, kann ein wichtiger Teil der Trauerverarbeitung sein.
Was mache ich, wenn ein Kind das nicht möchte?
Ich würde nie ein Kind zwingen, aber ich würde versuchen herauszufinden, warum es nicht möchte. Hat es Angst davor? Ermuntern und sagen: «Schau, wir lassen doch die Türe ein Spalt weit offen. Wir können zuerst nur reinschauen.» Wenn die Türe dann offen ist: «Wir schauen nur schnell rein, wieder raus.» Und immer etwas näher. Den ganzen Kopf rein, paar Schritte gehen. Wenn sie es schaffen, das zu machen, verlieren sie auch die Angst vor dem Unheimlichen, das wir um den Tod herum aufbauen.
Das ist ja auch für Erwachsene unangenehm.
Man muss sich bewusst sein, was man antrifft und entscheiden können: Will ich oder nicht? Und sich im Klaren darüber sein, dass dies einfach noch die Hülle ist.
Wie gehen Kinder dann damit um, wenn sie den Körper sehen?
Wenn Kinder einen toten Körper betrachten, wollen sie fühlen. Sie sollen fühlen dürfen. Es gibt Kinder, die probieren, die Augenlieder zu öffnen. Dürfen sie. Oder ein Junge wollte seiner Mama die Brille anziehen, er sagte: «Das ist nicht die Mama, ohne Brille.» Also haben wir ihr die Brille wieder angezogen.
Wie soll man mit Kindern übers Sterben sprechen?
Sehr klar, einfach und unumständlich. Ausdrücke benutzen wie «Er ist tot» oder «ER ist gestorben».
Warum darf man das nicht etwas umschreiben, zum Beispiel «Er ist entschlafen»?
Solche Umschreibungen können falsche Bilder auslösen. Kinder intepretieren dann: Er ist von uns gegangen – «Ja, wann kommt er denn wieder zurück???» Er ist eingeschlafen – «Uiii, ich darf nicht mehr einschlafen, sonst bin ich plötzlich tot!!!» Er hat uns verlassen – «Was habe ich falsch gemacht, dass er weg gegangen ist und nicht mehr wieder zurück kommt???»
Darf man das einem Kind zumuten? Gerade Dinge wie Sarg, Kremation. Ist das nicht zu viel?
Kinder schützen wollen, ist das grösste Vergehen, das man in dem Moment einem Kind antun kann. Kinder sind von Grund aus neugierig. Sie wollen Funktionsweisen kennen lernen. Je mehr sie ins Leben rein kommen, umso mehr wollen sie begreifen, wie das Leben funktioniert. Und Sterben ist nun mal Teil davon. Wir haben Angst davor, wir Erwachsene. Wir sind dazu angehalten, dass wir unsere Angst nicht auf die Kinder übertragen.
Wie erklärst du einem Kind die Vorgänge nach dem Sterben?
«Wenn ein Mensch gestorben ist, kommt er aus dem Bett in eine Holzkiste. Die ganz schönen Stoff drin hat, den wir auswählen dürfen, und ein schönes, weiches Kissen. Es nimmt mich wunder beim Grosspapi, ob er wohl seinen Geburtstagsanzug trägt. Oder für welche Kleidung die Oma sich entschieden hat?» Ist ein Elternteil gestorben, sollte das Kind mithelfen dürfen, die Kleidung auszuwählen. Oft ist es für das trauernde Kind sehr wichtig, dem Verstorbenen etwas Persönliches, eine Zeichnung, einen Brief, Blumen in den Sarg zu legen. Manchen Kindern hilft es den Sarg oder die Urne anzumalen. Alles, was noch für die verstorbene Person getan werden kann, kann im Trauerprozess helfen.
Wie erklärst du, was weiter passiert?
«Die Holzkiste lässt man in die Erde herab. Oder: Die Holzkiste kommt in einen Ofen, der ganz, ganz heiss ist. Der macht, dass der Handschuh, der nichts mehr spürt, die Hülle, verbrennt. Das, was die Person ausmacht – einerseits spürst du sie im Herz oder du hast sie in deinen Erinnerungen, oder was denkst du?» Ein gutes Bild, das ich häufig nutze, ist der Schmetterling. Das ist für ein Kind nachvollziehbar. Der Mensch ist so nicht weg, sondern hat eine neue Form angenommen.
Wie unterschiedlich gehen Kinder verschiedenen Alters mit dem Thema Sterben um?
Ein dreijähriges Kind hat meist einfach längi Zyti. Es ist wütend, weil es nicht versteht. Weil es verwirrt ist, nicht begreift, was passiert. Es weint, weil es die verstorbene Person wieder sehen will und zwar JETZT sehen will. Es begreift nicht, dass der Tod etwas Endgültiges ist. Mit drei Jahren spielen die Kinder «Ich bin tot», liegen sie auf den Boden und zack, eine Sekunde später sind sie wieder lebendig. Der Tod ist für sie etwas Reversibles. Mit rund fünf Jahren beginnen sie zu hinterfragen. Interessieren sich sehr für technische Details, den Sarg, die Urne, die Asche, wie das alles funktioniert.
Wie kann ich den Kindern erklären, dass die Oma jetzt verbrannt wird?
Wenn ihr ein Cheminee habt im Garten, macht ein Feuer mit den Kindern, nehmt ein Holz. Ich hatte kürzlich Kontakt mit einem Mann, dessen Frau gestorben ist. Der hat den Vorschlag gemacht, eine Figur aus Holz zu schnitzen und diese zu verbrennen. Die Kinder wünschten dann, dass sie die Asche der Holzfigur zusammen mit der Asche der Mutter in die Urne geben. Das sind für mich schöne Momente. Kinder tragen viel Weisheit in sich.
Sie schonen zu wollen ist das Dümmste, was man machen kann. Wir schonen sie nicht wirklich. Wir halten ihnen etwas vor.
Wie ist es mit unseren Emotionen? Wie soll man ‘richtig’ trauern?
Als Trauerbegleiterin gehe ich vom gesunden Trauerpotenzial eines jeden Mensch aus, dem der Kinder sowieso. Kinder haben das so natürlich in sich. Kinder leben dermassen im Moment, dadurch springen sie wie in einen Trauermoment rein. Wüten, toben sind traurig, und in der nächsten Sekunde hüpfen sie weiter, gehen zeichnen oder singen ein Lied. Dem sagt man beim Trauern das «Pfützenspringen», das unterscheidet die kindliche Trauer von der erwachsenen Trauer. Das ist sehr gesund. Wenn sie dauerhaft trauern würden, könnten sich nicht mehr gesund entwickeln, es brauchte so viel Substanz von ihnen.
Erwachsene sind mehr in einem Fluss?
Erwachsene haben viel mehr Konzepte in sich. Man darf nicht trauern, beispielsweise. Denn das entspricht nicht unseren Idealbildern der Gesellschaft. Wenn man traurig ist, geht es einem schlecht. Viele verwechseln Trauer mit Depression. Viele Leute werden depressiv, gerade weil sie nicht trauern.
Was heisst denn «gesund traurig sein» als Erwachsener?
Es beginnt damit, sich eingestehen: Ich habe das Recht, traurig zu sein. Mein Kind ist gestorben, mein Vater ist gestorben, meine Mutter ist gestorben. Trauer zugestehen, sich selber die Erlaubnis geben. Man kriegt sie nicht unbedingt von der Gesellschaft. Und sich Orte suchen und Methoden, um die Trauer auszudrücken. Herauszufinden: Was tut mir gut? Mit den eigenen Gefühlen in Kontakt zu gehen und diese auszudrücken.
Gleichzeitig hat man noch die Kinder. Was muss man in einem solchen Moment für sich selber beachten oder wissen?
Sich bewusst sein, dass jeder Mensch eine andere Form hat zu trauern. Es gibt Menschen, die lenken sich lieber ab. Andere sind gerne tätig. Organisieren die Beerdigung, das hilft ihnen. Andere hören Musik, die sie zusammen mit dem Verstorbenen gehört haben. Oder sentimentale Musik und weinen. Anderen hilft, ein Znacht für alle zu kochen und für das leibliche Wohl zu schauen. Weiteren hilft es, grad sofort Bücher zu lesen und philosophische Fragen zu beantworten. Es ist wichtig, dass man weiss, dass es verschiedene Typen gibt und jeder woanders steht. Das kann auch immer wieder wechseln, mal ist man aktiv, mal passiv. Dass man einander Raum gibt zum Traurigsein.
Gibt es was, worauf Erwachsene beim Trauern Kindern gegenüber Rücksicht nehmen müssen?
Jeden Menschen, der ganz nahe von Tod, Abschied und Trauer betroffen ist, trifft es in seiner tiefsten Existenz, wenn er ganz privat oder beruflich mit Tod, Abschied und Trauer konfrontiert ist. Wir müssen uns und unsere Trauergeschichte selber reflektieren, damit wir nicht unsere eigene Trauer auf die Kinder projizieren. Da haben wir eine grosse Verantwortung den Kindern gegenüber.
Darf man vor den Kindern weinen?
Ja, man muss die Tränen nicht verstecken vor den Kindern. Sondern sagt: «Schau, er fehlt. Jetzt ist der Grosspapi gestorben und er fehlt mir wirklich ganz fest. Und das macht mich so traurig, dass ich jetzt einfach wirklich grad weinen muss. Mir geht es nicht schlecht deswegen.
Dass man weint, heisst nicht, dass es einem schlecht geht. Man ist einfach traurig. Wer sagt, dass es schlecht ist, wenn man traurig ist?
Plötzlich hat man einen weinenden Elternteil vor sich. Was ich erlebt habe, dass die Kinder sehr stark das Bedürfnis haben, einen zu trösten. Wie soll man damit umgehen?
Mit ihnen altersgerecht sprechen. Sogar einem Baby, das ja noch nicht sprechen kann, spürt die Schwingung deiner Mitteilung: «Schau, der Papa ist traurig, weil sein Papa gestorben ist. Darum muss er weinen und im Moment kann man ihn grad gar nicht trösten. Und zum Glück kann er weinen, es ist so gut, kann man weinen. Dann kann er danach auch wieder lachen.»
Also viel versuchen zu erklären, was in einem passiert…
… aber ganz einfach. Sagen, dass Trauer nichts Schlechtes ist und Tränen nichts sind, was einem Angst machen muss. Diese Angst den Kindern nehmen. Dass sie einen trösten wollen in einer solchen Situation, das dürfen sie auch. Man kann ihnen auch sagen, dass dies nicht immer gelingt. «Manchmal kann ich dich ja auch trösten, weisst du noch, als du umgefallen bist.. oder wo du so traurig warst und nichts hat genutzt, ich konnte dich nicht trösten, so geht es uns Erwachsenen manchmal auch.»
Wie kann ich das Kind praktisch beim Trauern unterstützen?
Dem Kind auf verschiedenste Arten anbieten, seine Gefühle auszudrücken. Wenn das Kind nicht darüber sprechen möchte, signalisieren: «Ich bin da. Ich weiss, dass dir die Person fehlt und du darfst jederzeit zu mir kommen. Und wenn du nicht kommst, frage ich manchmal nach, ist das gut?» Oder mit dem Kind einen Platz in der Wohnung vereinbaren. Beispielsweise ein Fenstersims. Wenn es traurig ist, kann es da eine Karte oder einen Stein als Zeichen hinlegen. So wissen die Eltern: Jetzt ist es gerade traurig.
Wie soll man reagieren, wenn der Stein dort liegt?
Bereits zu Beginn abmachen, was passiert, wenn der Stein dort liegt. Will das Kind, dass man es anspricht. Oder reicht es, dass man es einfach weiss. Da kann man zu ihm sagen: «Ich habe die Karte gesehen.» Darauf hin fragen: «Brauchst du etwas? Kann ich etwas für dich tun?» Ein, zwei Vorschläge machen wie: «Soll ich dich in den Arm nehmen? Wollen wir zusammen ein Büechli schauen, das Fotoalbum anschauen?» Das Kind kann entscheiden, ob es das will oder nicht. Es hat den Raum, den es braucht. Es weiss, dass ihr wisst, wie es ihm geht und dass es euch interessiert. Man bedrängt das Kind nicht, aber schafft Möglichkeit, mit ihm in Kontakt zu bleiben.
Was, wenn das Kind kaum darüber reden will?
Manchmal reicht dem Kind einfach, dass du es gesehen hast. Es wird wahrgenommen, es geht nur um das: Gesehen und gehört und verstanden werden. Wir brauchen gar nicht immer Ratschläge oder Anleitungen. Weiss ich nicht was für komplizierte Lösungen. Wir müssen im Trauerprozess vor allem eines: Gesehen, gehört und verstanden werden. Und die Erlaubnis zum Traurigsein bekommen und uns diese selber auch geben.
Du sagst, man soll über die Situation reden, die Trauer ansprechen. Wie findet man einen guten Zeitpunkt dafür?
Eine gute Situation ist, wenn man mit den Kindern etwas am machen ist, zum Beispiel beim Basteln. Mit ihnen spazieren gehen. Wenn man zusammen im Auto unterwegs ist, und nicht frontal, sondern nebeneinander sitzt. Da kann man sagen: «Du, ich merke grad, es nimmt mich wunder, wie es dir geht. Magst du dich noch erinnern, wie wir mit dem Opa jeweils das und das gemacht haben? Wie geht es dir so? Was spürst du so? Bist du noch viel traurig?»
Gute Momente sind auch, wenn die Kinder ins Bett gehen. Vor dem Einschlafen sind sie oft butterweich. Das sind so heilige Momente, in denen sie über wichtige Dinge reden.
Wie kann man das Gespräch natürlich auf den Verlust und die Trauer bringen?
Sanft, nicht einfach so «He, ich möchte jetzt über den Opa reden». Eher vielleicht über eine Erinnerung. Oder eine Feststellung. Womöglich bist du selber traurig. Dann kannst sagen: «Heute musste ich ganz fest an Opa denken, weil ich einen Mann gesehen habe, der dieselbe Jacke hat wie er. Da merkte ich grad, er fehlt mir so fest. Das hat mich gerade sehr traurig gemacht. Wie geht es eigentlich dir?» Das ist einladend. Und wenn die Kinder nicht reden wollen, wollen sie nicht. Dann ein andermal wieder probieren.
Wie schaut es denn aus, wenn man bisher als Familie nicht mit dem Tod konfrontiert worden ist. Sollte man Tod und Sterben thematisieren mit den Kindern?
Ich empfehle allen, sich ein, zwei (Bilder)Bücher zu kaufen zum Thema, welche die Eltern zuerst mit den Kindern gemeinsam durcharbeiten. Danach können die Kinder sie dann alleine anschauen. Vielleicht mal einen Friedhof besuchen, was ja für ein Kind höchst interessant sein kann. Somit sind die Kinder ein bisschen vorbereitet, verlieren den Schrecken. Auch bewusst mit toten Haustieren umgehen.
Nicht einfach den Hasen entsorgen, sondern eine Hasen-Beerdigung machen. Nicht einfach einen neuen kaufen, sondern das Kind die Lücke spüren lassen. Es darf merken, dass der Hase fehlt.
Wenn eine Familie jemand nahestehens verloren hat, was rätst du da? Wie damit umgehen, wie thematisieren, was ist wichtig?
Ich habe Trauernde begleitet, bei denen die Verletzung, die sie erfahren haben durch die Umgebung, die ihnen ausgewichen ist, fast so gross war wie ihre Trauer um ihr verstorbenes Kind. Natürlich kann ich als Trauerbegleiterin ihnen sagen, dass die Leute ihnen ausweichen, weil sie unbeholfen sind im Umgang mit der Situation. Aber das ist nicht die Aufgabe der sowieso schon trauernden Person, das zu verstehen. Es die Aufgabe des Umfelds, sich die Kompetenzen anzueignen, hinzustehen und zu sagen: «Ich habe es gehört. Ich finde es furchtbar und ich weiss nicht, was ich dir sagen soll. Mir tut mein Herz so weh. Wenn es irgendwas gibt, was ich für dich tun kann, sag es mir.»
Wie kann man praktisch unterstützen?
Gerade als Nachbarin kann ich dir empfehlen: Dinge wie ein Mittagessen vor die Tür stellen, zu fragen: «Kann ich dir immer am Dienstag und Freitag ein Mittagessen kochen?» Wenn jemand stirbt, ist das eine ganz grosse Entlastung. Einkaufen gehen, etwas kochen, zum Essen einladen oder wenigstens Essen hinstellen. Manchmal will die Trauerfamilie auch für sich sein.
Wie thematisiere ich das mit meinen Kindern?
Die Situation einfach ansprechen, darüber sprechen. Ihnen Fragen stellen. Und auch darauf achten, ob sie aufgrund dessen Verlustängste haben. Wenn ein Kind in der Klasse die Mutter verliert, kann das unter Umständen das Bewusstsein wecken: Das kann ja jedem passieren, das kann auch mir passieren, dass meine Mama stirbt.
Wie reagiert man da als Eltern?
Einerseits einfach hellhörig sein, ob das Kind diese Angst äussert. Und wenn das Kind beispielsweise sagt: «Gell Mama, du stirbst nicht.» Sicher nicht sagen: «Nein, sicher nicht. Ich sterbe erst, wenn ich alt bin.» Da lügt man die Kinder an.
Was könnte man stattdessen antworten?
«Normalerweise sterben Menschen, wenn sie alt sind. Aber sie können auch jung sterben, durch Unfall, durch Krankheit. Aber jetzt bin ich einfach da und du bist auch da. Und jetzt können wir zusammen was machen. Und ich hoffe natürlich, dass ich ganz uralt werde, und dass wir noch ganz viele Dinge machen können.» Dann in die Handlung über gehen. Dem Kind sagen: «So und jetzt, was wollen wir zusammen machen?» Gemeinsam mit dem Kind etwas machen. Um es spüren zu lassen: Jetzt bin ich da. Es geht eigentlich nur darum: «Jetzt bist du da.» «Morgen bist du hoffentlich auch noch da». Aber sich auch bewusst sein, jeder stirbt einmal.
Jede Möglichkeit mit deinem Kind zu feiern, das Zusammensein jetzt zu feiern.
Du bist ständig mit Schicksalen und Tod konfrontiert, wie verarbeitest du das?
Ich kann zum Glück tätig sein und bin im Gegensatz zu den Familien nicht in einer Ohnmacht drin. Wenn ich in der Situation merke, dass mich etwas in meiner persönlichen Geschichte triggert, schiebe ich das gefühlsmässig in eine Schublade, die ich zu Hause wieder öffne und sortiere. So kann ich während der Begleitungen ganz bei den Betroffenen sein.
Wie sortierst du diese Gefühle, die da aufkommen?
Indem ich auf meine Ressourcen zurückgreife. Das Bewegen in der Natur, regelmässige Yoga- und Meditationspraxis. Meine Familie, meine Enkelin und mein Freundinnenkreis. Hinzu kommt, dass ich zu 50% meiner Arbeitszeit gesunde Kinder, zu 20% Kinder und Jugendliche mit geistiger und körperlicher Beeinträchtigung betreue. Diese Arbeit ist sehr bereichernd. In der Kita arbeiten wir zudem integrativ mit Bewohnern des Domizils. Ich verdiene zwar sehr schlecht in meinem Grundberuf, aber all die Begegnungen mit Kindern und BewohnerInnen sind meine Herzenslohnaufbesserung.
Du warst selber sterbenskrank, wie hast du diese Zeit gemeistert?
Nachdem ich bereits drei Freundinnen mit Brustkrebs in den Tod begleitet hatte, erhielt ich 2011 eine arge Brustkrebsdiagnose. Ich hatte eine komplexe Krankheitsgeschichte. Während dieser Zeit habe ich keine Trauerbegleitungen mehr gemacht. Es war Zeit, mich selber zu begleiten und begleiten zu lassen. Durch meine Ausbildungen wusste ich, worauf ich mich achten musste. Zum Beispiel, dass immer jemand an wichtige Arztgespräche und Untersuchungstermine mitkommt, weil vier Ohren mehr hören als zwei. Freunde schauten, dass meine Jungs die Unterstützung in der ganzen Situation hatten, die sie sich wünschten und die ihnen gut tat. Ich ging lange zu einer Psychoonkologin in die Therapie.
Wie geht es dir heute?
Heute bin ich gesund und habe das Glück, zuversichtlich in der Gegenwart zu leben und in die Zukunft zu schauen. Ich nehme aber immer wieder therapeutische Angebote in Anspruch, sei es auf der physischen oder emotionalen Ebene. So geht es mir gut und ich kann meiner Arbeit mit einem guten Gefühl und viel Hingabe und Freude nachgehen.
Buchempfehlungen von Christine Leicht, um das Sterben und den Tod zu thematisieren:
- «Fisch schwimmt nicht mehr», Judith Koppens und Eline von Lindenhuizen
- «Abschied von der kleinen Raupe», Heike Saalfrank und Eva Goede
- «Marco entdeckt seine Gefühle», Monica Lonoce
- «Gemeinsam trauern, gemeinsam leben», Mechthild Schroeter-Rupieper
- «Für immer anders», Mechthild Schroeter-Rupieper
Wer eine Trauerbegleitung sucht, oder direkte Fragen an Christine Leicht hat, findet ihren Kontakt unter: www.kindertrauer-leicht.ch
Hat nicht nur den Master in Psychologie. Sondern ist auch Master im Desaster, was ihr als Aufsichtsperson von vier Kindern sehr gelegen kommt. War mal Journalistin in Zürich, jetzt ist sie freischaffende Mutter in Bern.