Kinder im Trotzalter – Die tickende Zeitbombe

Kürzlich sass ich seit einer gefühlten Ewigkeit wieder einmal beim Coiffeur. Nach den obligaten Fragen darüber, wie denn der neue Haarschnitt ausfallen sollte, folgte der obligate Smalltalk. Was ich im Leben so mache? «Ich arbeite an zwei Tagen die Woche, ansonsten bin ich Zuhause bei meinen Kindern.» Darauf die Frage nach dem Alter meiner Buben. «Zwei und vier», sagte ich. „«Ach, wie SÜÜÜSS!», meine Coiffeuse verzückt.

ACH WIE SÜSS… sollte ich darauf etwas erwidern?

Klar sind sie süss.

Zuckersüss.

Sie können mich um den Finger wickeln, wenn sie wollen. Mich mit ihren wunderschönen, grossen, blauen Augen anschauen und mich mit ihrem Hundeblick innert Sekunden zum Schmelzen bringen. Wenn sie mich mit ihren Schlabberküssen überschütten, mit ihren kleinen Patschhänden festhalten, mir ihr schönstes Lächeln schenken, gemeinsam giggeln oder lauthals mitsingen, wenn ihre Lieblingsmusik aus den Boxen dröhnt. OBERMEGASÜÜÜSS!
Das können sie.

Aber ganz ehrlich: Momentan ist SÜSS nicht das erste Adjektiv, das mir einfällt, um meine Jungs zu beschreiben.

Ganz besonders nicht den Jüngeren. Denn der hat es mit seinen zwei Jahren in sich. Treffender als süss finde ich: Temperamentvoll, aufbrausend, explosiv… ja, explosiv scheint mir passend.

Er ist eine tickende Zeitbombe. Und ich lebe mit dem ständigen Bewusstsein, dass die Bombe jede Sekunde hochgehen kann.

Egal ob früh morgens direkt nach dem Aufstehen, wenn der Rest der Familie noch schläft und ich knapp die Augen offen habe. Oder beim Einkaufen im Laden, im Beisein dutzender fremder Zeugen. Gründe für eine Explosion gibt es wie Sand am Meer.

Mal ist das Butterbrot schuld. Weil es zu viel Butter drauf hat – oder zu wenig. Oder weil die Butter vom Zweijährigen nicht selber draufgeschmiert wurde, weil die Mutter nicht kapierte, dass mit «Löffel!!!» eigentlich «Messer!!» gemeint war und dem Kind mit der einen Hand einen Löffel gab und mit der anderen das Butterbrot schmierte, welches das Kind ja eigentlich selber schmieren wollte – Mit dem «Löffel», der eigentlich ein Messer war. Aber eben doch nicht… Versteht ihr, was ich meine? Falls nicht – ich bin ebenfalls verwirrt.

Anderes Beispiel, selbe Logik. Das Anziehen der Jacke birgt aktuell riesige Explosionsgefahr. Denn das Kind will keine Jacke. Auch bei Regen und einer Aussentemperatur von fünf Grad Celsius nicht. ES WILL NICHT. Ich aber schon. Denn: Ich will kein krankes Kind.

Also: Jacke an! PÄNG! Die Bombe geht hoch.

Ist die Bombe einmal hochgegangen, hinterlässt sie zwar keine Verwüstung. Niemand nimmt ernsthaften Schaden – ausser meinen Nerven. Und meinem Gehör. Denn habt ihr schon mal eine Bombe gehört, die mucksmäuschenstill hochgegangen ist? Ganz ohne Krach? Eben. Sohnemann beherrscht das Kreischen in einer Frequenz, das Porzellan und Glas das Fürchten lernt. KLIRR! Und natürlich dauert der ohrenbetäubende Ausbruch auch nicht nur ein paar Sekunden.

Minuten verstreichen und ich frage mich, wie man nur so lange so laut schreien kann, ohne selber einen Ohrenschaden davon zu tragen. Oder die Stimme zu verlieren.

Seit einigen Wochen präsentiert das Kind die Ausbrüche in einer weiterentwickelten Form. Nach dem obligaten Gekreische folgt ein: DU SCHEISSE!! DUMM DUMM DUMM!!!

Es ermüdet mich. Das Geschrei, die Ausbrüche, die Explosionen. An schlechten Tagen fühlt es sich so an, als kämen sie im Abstand von wenigen Minuten. Dann möchte ich manchmal am liebsten dasselbe tun: Schreien, weinen, toben. Und um diese negative Spirale zu durchbrechen, versuche ich, weitere Ausbrüche zu verhindern. Vermeide ein striktes NEIN, überlege mir Alternativen, bin diplomatisch, lenke ab. Was mich auch wieder müde macht. Doch manchmal hilft es. Und ich schaffe es, die tickende Zeitbombe zu entschärfen. Dann hab ich ihn ganz plötzlich wieder vor mir, den herzigen blonden Jungen, der mit seinen stahlblauen Augen und dem spitzbübischen Lächeln mein Herz im Nu zum Schmelzen bringt. OBERMEGASÜÜÜSS.

Ob ich der gutgläubigen Coiffeuse etwas von all dem erzählt habe? Nein. Ich habe sie angelächelt und auf meine imaginäre To-Do Liste eine Notiz hinterlassen: «Pamir kaufen – dringend!!»

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