Früher war das Ganze mit dem Kinderkriegen und Kinderhaben wesentlich klarer.
Entweder man konnte Kinder kriegen. Oder man konnte nicht. Punkt. Viel dazwischen gab es da nicht.
Wer Kinder hatte, hatte glücklich zu sein und war gleichzeitig gesellschaftsfähig und gesellschaftserhaltend. Kinder verschafften der Frau ihren Wert. Es galt: Achtung gebührt jenen Frauen, die in der Lage sind, den Fortbestand der Gesellschaft zu sichern. Wer keine hatte, dem blühte ein Leben im Schatten der Kinderlosigkeit, des gesellschaftlichen Mitleids, der Wertlosigkeit und Sinnlosigkeit.
Ob man Kinder haben konnte oder nicht, lag nicht in den eigenen Händen. Es war das Schicksal eines jeden einzelnen, das über Sein oder Nichtsein, über Haben und Nichthaben entschied.
Heute gilt das nicht mehr.
Spätestens seit der Möglichkeit, die Entstehung eines Kindes aktiv zu verhindern, hat sich das Schicksal vorübergehend verabschiedet und die Familienplanung dessen Platz eingenommen.
Familie oder keine Familie, so suggeriert dieses Modell, lässt sich planen. Mit viel Denken, sorgfältigem Abwägen. Mit einer Pro-Kontra-Liste. Mit einer SWAT-Analyse der Paarbeziehung und der generellen Lebenssituation.
Blöd nur: Egal wie viel man plant, die Masse der Willkür ob und zu welchen Bedingungen sich dieser Plan im Ansatz verwirklichen lässt, ist wahnsinnig gross. So gross, dass die sorgfältige Planung des modernen Menschen im Vergleich nicht viel gewichtiger aussieht als jene handgeschriebenen Einkaufszettel, die sich zusammengeknüllt im Einkaufswagen finden.
Denn da gibt es Faktoren wie
Wenig Spermien.
Ungenügende Spermien.
Verklebtes Gewebe.
Kein Eisprung.
Unpassende Gene.
Zu viele Gene.
Zu wenig Gene.
Erkrankung.
Unachtsamkeit.
Unfall.
Zu wenig Kinder.
Zu viele Kinder.
Falsches Geschlecht.
Falscher Zeitpunkt.
Falscher Partner.
Gegensätzliche Ansichten.
Finanzielle Lage.
Keine Kraft.
Und wir halten unseren Einkaufszettel verzweifelt hoch und rufen: «Aber wir haben uns das doch so vorgestellt.»
Früher, so glaube ich, war man der Diskrepanz von Wollen und Sein gnädiger gestimmt. Die Schuld für das Desaster liess sich abschieben.
Dem Schicksal.
Jener willkürlichen Macht, die ausserhalb menschlichen Zutuns über menschliches Geschick entscheidet. Der man sich einordnen, unterordnen, sich zu schicken hatte.
Heute trägt jeder einzelne die Schuld. Für sich. Für sein Versagen.
So à la «Schlechte Voraussetzungen? Kauf dir neue!»
Wie wenn sich mit viel Geld, viel Aufwand und viel Investment alles erschaffen und erreichen liesse. Würde man nur.
Und obwohl sich mit der Familienplanung der Wert der Frau angeblich von ihrer Fähigkeit, Kinder zu kriegen, losgelöst hat, gilt: Egal wie es ist, so richtig gut ist eigentlich nichts. Karriere ohne Kinder, Karriere mit Kinder, keine Karriere, nur Kinder, nichts von allem.
Recht machen kann man es keinen.
Und so kommt am Ende alles auf einen selbst zurück. Mit einher geht die Last und der Druck, an sich und seinem Leben zu schleifen und zu arbeiten. Zu glauben, moll, würde man, hätte man, könnte man, wäre man. Wäre man was?
Glücklicher? Erfüllter? Geachteter? Verstanden?
Die Würde, man muss sie sich hart erkämpfen. Und verliert sie doch an allen Ecken und Enden.
Gemäss Wörterbuch ist Würde ein «Achtung gebietender Wert, der einem Menschen innewohnt, und die ihm deswegen zukommende Bedeutung».
Die Achtung von anderen für das, was man ist, erarbeitet, tut, lebt. Sie wird zuweilen trotzig eingefordert, doch sie aktiv «inne haben», dieses Gefühl hat Seltenheitswert.
Es gibt Demonstrationen für Würden aller Art.
Doch es gibt wenige, die sie vergeben.
Würde ist etwas, was man sich nicht selber nehmen kann. Würde wird einem geschenkt.
Doch verhält es sich nicht so, dass Würde einem Menschen zeitgleich mit dem Leben geschenkt wird. Dass sie daraus resultiert, dass da ein JA ist, welches über jedem einzelnen Menschen steht. Jeder Atemzug bekräftigt es. Jeder Morgen, der wieder kommt, ist ein Ja.
Dieses Ja lässt sich nicht nehmen.
Durch Pläne, die durchkreuzt werden. Durch Enttäuschung. Durch Schicksalsschläge. Dieses Ja bleibt, selbst wenn die Blicke der andern mitleidig, misstrauisch sind. Oder ausbleiben.
Familienplanung kann Privatsache sein.
Das Schicksal ist es nicht. Jeder kriegt es mit, früher oder später.
Doch statt hinter vorgehaltener Hand über das Schicksal anderer zu sprechen. Sollte man lieber schweigend dankbar sein. Dafür, gewisse Bürden nicht tragen zu müssen. Dafür, dass Dinge aufgegangen sind, wie geplant. Und nicht nur das, dass sie sich auch so anfühlen, als hätte man sie schon immer genau so gewollt.
Wir brauchen nicht nur ein Ja zu uns selbst.
Wir brauchen auch ein Ja zu unserem Schicksal. Zu unserem Leben, wie es sich gestaltet.
Und ein Ja für die Menschen um uns herum. Wir sollen Würdeträger sein. Für uns selbst. Achtung vor sich selbst haben. Liebevoll mit sich selber umgehen. Sich dieses Ja zusprechen, es verinnerlichen.
Und wir sollen Würde verleihen. Den Menschen um uns herum. Ihnen Bedeutung geben. Achtung vor ihnen haben, Acht haben. Das JA, welches über ihrem Sein steht, bekräftigen – nicht in Frage stellen. Und uns immer wieder das JA, welches über unserem Sein steht, zusprechen.
Bild: Kelly Sikkema Unsplushy
Hat nicht nur den Master in Psychologie. Sondern ist auch Master im Desaster, was ihr als Aufsichtsperson von vier Kindern sehr gelegen kommt. War mal Journalistin in Zürich, jetzt ist sie freischaffende Mutter in Bern.