Der Satz, der das Fass zum Überlaufen brachte, war durch und durch harmlos. Es war der letzte Satz in einer Kette vieler Sätze, die allesamt eines gemeinsam hatten: Umstände und Umwege.
«Dafür müssen Sie hundert Franken Depot bar bezahlen» – die Apothekerin.
Weil ich so viele Umwege bereits gegangen war und den Umständen zum Trotz die Fahne der Moral hochgehalten hatte. Weil es nicht ein einziges Mal einfach einfach sein konnte. Weil ich keine hundert Franken in Bar dabei hatte, dafür zwei Kleinkinder an der Hand und ein Baby im Maxicosi, die ich nun zum nächsten Bankomat und zurück buxieren müsste. Weil ich schlicht genug hatte und nicht mehr wollte, heulte ich der angehenden Apothekerin im dritten Lehrjahr den weissen Kittel mit meinen Mascaratränen (von wegen wasserfest) nass.
Warum ich nicht bereits viel früher geweint habe, beispielsweise, als ich völlig übermüdet in der Nacht Milch abpumpte, nachdem das Baby plötzlich nur noch abnahm statt zu. Warum nicht dann, als ich herausfand, dass die Waage, die das Gewicht der Stillmahlzeiten messen sollte, kaputt war und sich alle Messungen als Blindflug herausstellten. Oder in dem Moment, in dem feststand, dass die beiden Grossen ebenfalls in die Osteopathiepraxis mitkommen müssten, weil sich kein Babysitter finden wollte. Keine Tränen. Ich nahm es hin. Blieb locker, weil: «Alles ist eine Phase.»
«Du bist eine grossartige Mutter», flüsterte mir die Stilllobby ins Ohr. Während ich all diese Dinge tat. «Andere hätten schon längst aufgegeben.»
«Hör doch einfach auf«, empfahlen mir die Vernunft, die Bequemlichkeit und andere Mütter. «Auch Schoppenkinder werden gross.»
Da war ich.
Zwei Kinder vollgestillt und daher, so glaubte ich, erfahrene Mutter. Geriet ganz plötzlich mit dem drittem Kind in den Still-Stand. Weil ich wenige Wochen nach der Geburt überraschend ein unstillbares Baby an den Brüsten hängen hatte.
Unstillbar? Gibt’s nicht! Oder eben doch.
Egal, welche Verrenkungen ich physisch und sonstwie unternahm, während die beiden voll- aber inzwischen abgestillten Kinder auf mir herumkletterten oder ausserhalb meiner Reichweite Dinge taten, die sie innerhalb meiner Reichweite nie hätten tun dürfen. Egal, was ich tat, es reichte nicht aus, das dritte Kind zu animieren, genügend Nahrung aufzunehmen. 30mg Nahrungszufuhr zeigte die neu organisierte Waage erbarmungslos nach einer halben Stunde Kampfstillen. Und ich wünschte mir, sie wäre so falsch getaktet gewesen wie ihre Vorgängerin.
War sie nicht.
Zufüttern. Milchmenge der eigenen Brüste durch 24-h-Abpumpen ermitteln – was die Dauer einer Stillmahlzeit auf eine Stunde verdoppelte. Baby einmal rundherum im Uhrzeigersinn an der Brust ansetzen. An der Brust rumdrücken wie auf einem Antistressball in der Hoffnung, den Saugreflex zu optimieren. Trinken wie ein Kamel. Milchmenge ins Unendliche hochjagen.
30 Milligramm.
Irgendwann stand fest:
Unsere Stillbeziehung ist wohl bald keine mehr.
Bämm.
Das kam trotz den Vorboten so unerwartet. Und vor allem so unerwartet unerwünscht.
Obwohl mir die ganze Stilllobby suspekt ist, Langzeitstillen ebenfalls und ich selbst pures Schoppenkind mit zero Allergien. Obwohl ich innerlich mit Teilzeit-Abstillen geliebäugelt hatte, weil Schoppen so viel einfacher und effizienter erschien. Da war eine Komponente, die mir bisher total entgangen war:
Stillen ist eben doch mehr als das blosse Ernähren eines Babys.
Mein Kind war knapp einen Monat nicht mehr in mir drin. Da sollte es doch nicht schon nicht mehr an mir dran sein. Way too early.
Schon nur der Gedanke, dass jemand anderer als ich das Baby würde füttern können, empfand ich nicht als erleichternd. Diese innige Beziehung, die sich durch das Stillen so selbstverständlich und natürlich und diskussionslos ergibt, wollte ich mit niemandem teilen. Doch mit einem Schoppenkind würde eine Teilzeitbeziehung eine reelle Option.
Und auch wenn es 1001 Gründe gab, warum mich ein Schoppenbaby glücklich machen würde. Sorglos Wein trinken, um nur ein Beispiel zu nennen. Unabhängigkeit. Mit drei Ausrufezeichen.
Ich wollte nicht unabhängig sein.
Ganz zu schweigen von dem sagenumwobenen Produkt Muttermilch. Deutlich vor Augen hatte ich die Petrischälchen, in denen die Muttermilch kampflustig alle Bakterien davon abhielt, sich zu vermehren. Ohne meine Milch wäre mein Kind diesen hilflos ausgeliefert. Wäre weniger intelligent, schmerzempfindlicher, allergisch gegen alles, mittelfristig ein übergewichtiger Diabetiker, verhaltensauffällig und sozial inkompetent.
«Mein Baby hat nach wochenlangem Abpumpen plötzlich trinken können und ich habe es unendlich langzeitgestillt», eine Stimme im Stillforum.
«Rückblickend hätte ich viel früher aufgehört und die Flasche geben», eine Mutter.
«Es ist ein Herzensenscheid», die Hebamme.
Und mein Herz schwankte zwischen «Stillen bis zum Umfallen» und der Einsicht, dass ein sofortiger Stillstopp vieles vereinfachen und schlicht alltagstauglicher sein würde.
Egal mit wem ich darüber sprach, jeder hatte eine Meinung. Unterschwellig, aber klar. Bloss ich war nicht in der Lage, eine zu finden. Setzte an, pumpte ab, füllte auf. Der zeitliche Aufwand war enorm. Der emotionale ebenfalls.
Dann die Wende.
Hohes Fieber und Schüttelfrost. Schmerzen in der Brust.
Völlig desorganisiert gleichzeitig Milchmenge steigern und abstillen wollen, kann nicht gut gehen. Und zu viel Stress – egal wie wenig Tränen er verursacht – macht sich irgendwann eben doch bemerkbar. Diagnose Mastitis. Kein Grund, aber der Auslöser für die Verabschiedung.
Zeit für die Notschlachtung.
Ich nahm also die heilige Kuh. Blickte ihr ein letztes Mal in die Augen. Betrauerte all das, was sie an Intimität, Innigkeit und Schönheit mit sich gebracht hatte – hätte. Und setzte das Messer an.
Hat nicht nur den Master in Psychologie. Sondern ist auch Master im Desaster, was ihr als Aufsichtsperson von vier Kindern sehr gelegen kommt. War mal Journalistin in Zürich, jetzt ist sie freischaffende Mutter in Bern.