«Weisst du denn überhaupt, wo Vex liegt? Hast du die Route gegoogelt? Und den Wetterbericht? Die Strassenverhältnisse? Es könnte viel Schnee geben!»
«Mami!»
Die energische Stimme meiner fast 30-jährigen Tochter, die in den Skiurlaub fahren will, reisst mich aus meinem Aufzählungsmodus heraus.
«Mami, mach dir keine Sorgen! Ich war schon in Ägypten, in China, in Indien, in Australien, in Kanada, in Japan, in Italien, Holland, Hongkong, Spanien, Deutschland, Grossbritannien, Frankreich, Österreich und in der Türkei, da werde ich es wohl noch schaffen, Vex zu finden!»
Klar, wer um den ganzen Globus gereist ist, wird auch Vex im Wallis finden.
Ich sackte ein, unangenehm berührt. Denn ich hatte nie so sein wollen wie meine Mutter (82), die mich, die ich kurz vor dem Rentenalter stehe, auch mit sorgenvoll fürsorglichen Fragen bombardieren kann. Fragen, die mich genau so nerven, wie ich jetzt meinen eigenen Nachwuchs damit nerve:
«Ist dir nicht kalt? Hast du keine Socken mit dabei? Soll ich dir mein Jäckchen leihen? Es ist kühl! Willst du nicht doch etwas essen? Du musst doch etwas essen!»
Erst vor kurzem realisierte ich, warum das so ist, weshalb Mütter sich Sorgen machen und manchmal einfach nicht den Mund halten können.
Es ist ihre LIEBE. Die nie vergehende, immer vorhandene, unvergängliche Liebe einer Mutter.
Wäre ich meiner Mutter scheissegal, würde es sie nicht kümmern, ob ich mir einen Schnupfen hole oder nichts zu futtern habe. Es wäre für sie so, wie wenn in China ein Sack Reis umfallen würde – es würde sie absolut nicht jucken. Ihre Fürsorge und penetrante Fragerei ist also ein Zeichen von Liebe. Meine Mutter sorgt sich um mich, weil sie mich gern hat und weil ich ihr wirklich etwas bedeute.
Mutti sorgt sich um mich, obwohl ich schon ein altes Kind bin, Schnuller, Windeln und der Pubertät seit Jahrzehnten entwachsen.
Darauf angesprochen meint sie: «Geht es nicht allen normal gestrickten Müttern so? So lange man lebt, sorgt man sich. Geht es den Kindern nicht gut, dann macht das etwas mit einem, egal, wie alt man ist.»
Diese ewige Angst, diese dauernde Sorge. Auch ich kenne sie, versuche sie jeweils abzuschütteln, wegzusehen, Panikanfälle von mir zu weisen, mich abzulenken, nicht daran zu denken, was alles passieren könnte. Trotzdem kann ich erst wieder richtig ruhig schlafen, wenn wieder alle gesund zurückgekehrt sind.
Einmal waren alle Kinder gleichzeitig im Ausland, meine Tochter in Australien, ein Sohn in Uruguay und der andere geschäftlich in Irland. Damals beklagte ich mich bei ihnen: «Müsst ihr denn alle gleichzeitig weg?» Sie lachten nur:
«Ach Mami, wir kommen ja wieder!»
Und der Liebe wegen sagen mir meine Kinder auch nicht immer alles. Auch sie haben mich lieb und wollen nicht, dass ich mich sorge. Sie haben mir darum so manches verschwiegen. Zum Beispiel, dass der eine Sohn die Polizei mit dem Roller abgehängt hat, als sie ihn als Teenager kontrollieren wollte. Und neulich, als da die Pandemie grassierte, verschwiegen sie, dass zwei in Quarantäne waren. Und ich habe erst ganz kurz vor dem Abflug vernommen, dass meine Tochter wieder nach Ägypten fliegen würde, um Freunde zu besuchen.
Vom Verstand her weiss ich, dass es irrational ist. Es könnte jeden Tag etwas geschehen. Aber – solange die Kinder in der Nähe sind, habe ich den Eindruck, so eine Art Kontrolle über ihr Schicksal zu haben, was natürlich völliger Blödsinn ist. Im eigenen Land ist ja alles noch überschaubar, aber wenn sie ins Ausland reisen, über die Grenze fahren, dann schiebe ich jedes mal eine Art kleine Panik. Sie entgleiten dem vermeintlich sicheren, schweizerischen Umfeld. Ganz besonders dann, wenn meine bildschöne Tochter in Gegenden reist, wo es für Frauen nicht ungefährlich ist.
Ich habe keine Kontrolle mehr über das Leben meiner Kinder.
Es ist die Urangst in mir, in uns Müttern, die sich wohl im kollektiven Gedächtnis all derer, die gebären durften, eingenistet hat. Vielleicht deshalb, weil zu früheren Zeiten die Kinder wie Fliegen weggestorben sind.
«Wieso machst du dir eigentlich immer noch Sorgen? Wir machen doch sowieso, was wir wollen, und es ist ja noch nie etwas passiert. Ausserdem kann uns auch daheim etwas zustossen!» Mein Sohn sah mich wieder einmal sehr genervt und strafend an.
Jetzt, nach dem Gespräch mit meiner Mutter, seiner Grossmutter, hatte ich endlich die richtige Antwort parat:
«Das kommt davon, weil du mir nicht schnurzpiepegal bist. Wärest du mir absolut gleichgültig, würde ich kein einziges Wort sagen.»
Seither reagiert er viel lockerer. Auch wenn ich wieder eine meiner unnötigen und blöden Fragen zum tausendsten Mal stelle, die ich mir einfach nicht verkneifen kann: «Ja, Mami, ich habe die Sonnencreme dabei!»
Er ist rothaarig und extrem hellhäutig…
Bild: Luis Machado
Redaktionsassistentin, Autorin, Mutter von drei erwachsenen Kindern und Oma einer Schulkind-Prinzessin und eines süssen kleinen Enkels. Schamgefühle sind nach so einer Mutter-Karriere wie der ihren kein grosses Thema mehr. Sie hat nicht immer Recht. Aber sie liegt selten falsch.